Historie
125 Jahre Urania
Am 3. März 1888 betrat mit der Urania in Berlin eine Volksbildungsstätte ersten Ranges die Bühne der Geschichte. Die Urania feiert ihr 125jähriges Bestehen mit zahlreichen Aktivitäten, die auch für die Leserinnen und Leser von „momentum“ von großem Interesse sein dürften. Im Folgenden werden die ersten 40 Jahre der Urania in kurzen Strichen dargestellt.
Vorhang auf!
Die gedämpfte Unterhaltung geht über in ein entferntes Murmeln, um schließlich von einer erwartungsvollen, nur noch von vereinzelten Individualgeräuschen unterbrochenen Stille abgelöst zu werden. Nach dem Löschen der Saalbeleuchtung setzt ein monotones mechanisches Geräusch ein. Endlich hebt sich der schwere Bühnenvorhang, um den Zuschauern im voll besetzten Theatersaal den Blick auf eine fremde Kulisse freizugeben.
Doch kein Schauspieler betritt die Bühne. Stattdessen nimmt der Theaterbesucher eine urweltliche Landschaft wahr, in der die außermenschliche Natur zur Darstellung kommt; menschliche Tätigkeit erscheint leibhaftig nur als naturwissenschaftlicher Kommentator und verbirgt sich ansonsten hinter einer erfundenen und künstlich produzierten urweltlichen Kulisse. Der urweltliche naturhistorische Prozess gerinnt zu einem Theaterstück, zu einem künstlichen Naturschauspiel, wo die „Kunst“ darin besteht, mit Hilfe von technischen Mitteln, die urweltliche Natur Theater spielen zu lassen. Das dargebotene Theaterstück trägt den Titel „Die Geschichte der Urwelt“ und wird im Theatersaal des Urania-Gebäudes in der Invalidenstraße auf dem Gelände des Landesausstellungsparks am Lehrter Bahnhof aufgeführt.
Der Bühnenautor Dr. Max Wilhelm Meyer – zusammen mit Professor Dr. Wilhelm Julius Foerster und Werner von Siemens Begründer der am 3. März 1888 ins Leben gerufenen Berliner Urania – ist gleichzeitig auch Erfinder des wissenschaftlichen Theaters. Meyers wissenschaftliches Theater bildete in der Frühgeschichte der Berliner Urania deren Rückgrat und war bestimmt, „ein verkleinertes Bild der Natur, nur in ersten, allgemeinsten Umrissen, aber in möglichst wirkungsvoller Form dem unmittelbaren Verständnis einer großen Menge angepasst und nur dem Zweck der allerersten Anregung dienend zu entwickeln“ (Meyer).
Sein naturwissenschaftliches Volkstheater hatte auch andere von ihm verfasste Bühnenstücke auf dem Spielplan. Neben dem genannten Stück über die Geschichte der Urwelt waren die Vorführungen „Von der Erde bis zum Monde“, „Das Antlitz der Erde“ und „Durch alle Welten“ wahre Publikumsrenner, die den Bestand der Berliner Urania AG – ja, Sie haben richtig gelesen: Aktiengesellschaft – in den ersten beiden Jahrzehnten wirtschaftlich absicherten.
Wie kam es zur Gründung einer Aktiengesellschaft mit dem Ziel einer massenhaften Verbreitung naturwissenschaftlichen Wissens?
Von der Singakademie zur Urania
Die Tradition der Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens in Berlin geht auf den größten deutschen Naturforscher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück: Alexander von Humboldt (1769-1859) hielt im Winter 1827/28 in der Berliner Singakademie (heute Maxim Gorki-Theater) seine volkstümlich angelegten naturwissenschaftlichen Vorträge, um das Berliner Publikum an dem reichen Ertrag seiner Forschungsreisen teilhaben zu lassen. Humboldt traf ins Schwarze, denn der Andrang zeigte, dass ein erhebliches gesellschaftliches Bedürfnis nach Demokratisierung naturwissenschaftlichen Wissens bestand. Er legte der von ihm angeregten und 1835 vollendeten Berliner Sternwarte die Verpflichtung auf, „allmonatlich an etwa zwei Abenden dem Publikum zur Belehrung und Anregung zu dienen“ (Foerster). Auch die Gründung des „Wissenschaftlichen Vereins“ 1844, der jeden Sonnabend in der Singakademie einen populärwissenschaftlichen Vortrag zu natur- und kulturwissenschaftlichen Themen organisierte, ging auf eine Idee des Nestors der Naturforschung in Deutschland zurück.
Im vorherrschenden Selbstverständnis der Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts galt die Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens weder als Bestandteil der gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers noch als der eines Akademikers würdig. Ausnahmen von der Regel wie etwa Humboldt oder Foerster nannte der eingebildete Akademiker naserümpfend „Singakademiker“. Des Berliner Märzrevolutionärs Aron David Bernsteins (1812-1884) 21bändige „Naturwissenschaftliche Volksbücher“ – von Humboldt hochgelobt – gehören auch zu diesen Ausnahmen: Diese Enzyklopädie der populären Naturwissenschaften erlebte zahlreiche Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Dass die Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens letztlich notwendiges Moment der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor sich gehenden Vergesellschaftung der Wissenschaften im System der industriellen Produktion darstellte, diese Einsicht besaßen nicht nur Arbeiterbildungsvereine, sondern auch weitsichtige Pioniere der neuen Industriezweige wie Werner von Siemens. Dies, die Überlastung der Berliner Sternwarte sowie das Zusammentreffen ihres Direktors, Professor Dr. Wilhelm Foerster, mit dem wissenschaftlichen Mitarbeiter des „Berliner Tagblatt“ und Astronomen, Dr. Max Wilhelm Meyer, führte im September 1887 zu einem Aufruf Foersters nach Gründung einer „öffentlichen, teleskopischen, spektroskopischen und mikroskopischen Schaustätte zugleich zur Vorführung optischer und elektrischer Experimente sowie zu mannigfachen naturwissenschaftlichen Erläuterungen durch Wort und Bild endlich als Ausstellungsort für einschlägige Instrumente und Apparate dienend“. Mit der ihm eigenen Überzeugungskraft schaffte es Foerster, seinen Einfluss im bürgerlichen Berlin nach Gründung einer solchen Volksbildungsstätte geltend zu machen. Nachdem sich unter Foersters Vorsitz ein Aufsichtsrat aus Wissenschaftlern, Industriellen und Bankiers konstituiert und namhafte Vertreter aus diesen Kreisen Aktien gezeichnet hatten, stand der Verwirklichung der Urania-Idee nichts mehr im Wege: Sie erblickte am 3. März 1888 das Licht der Welt. Kaum 16 Monate später eröffnete die Kombination aus öffentlicher Sternwarte, Museum, Bibliothek und wissenschaftlichem Theater ihr Domizil in der Invalidenstraße.
Mache das Experiment!
Neben dem wissenschaftlichen Theater Meyers war das von Eugen Goldstein (1850-1930) eingeführte „System der Selbstbelehrung“ bei physikalischen Experimenten die zweite international wirksame Urania-Innovation. In Goldsteins Physikabteilung konnte der Besucher Versuche zur Elektrizität, Optik und Spektroskopie selbst durchführen und so über die Wahrnehmung der Erscheinungsformen physikalischer Vorgänge die sich dahinter verbergenden Gesetzmäßigkeiten erschließen: „Das praktische Lehrbuch, das an Stelle komplizierter Zeichnungen und weitschweifiger Erklärungen die eigene Anschauung setzt, wirkt viel intensiver, als das Lesestudium es je vermag, und besitzt sogar vor dem dozierenden Vortrag den Vorzug, dass der Lernende durch die eigene Handhabung der Apparatur in ihre Konstruktion besser einzudringen vermag und dass ihm ermöglicht wird, das Experiment so oft und so lange zu wiederholen, bis er es in Ursache und Wirkung vollkommen begriffen hat“ (Denkschrift zum 25jährigen Bestehen der Urania). Heute gehört Goldsteins „System der Selbstbelehrung“ zum Fundus der Museumspädagogik mit dem Besucher des Science Center Spectrum (Deutsches Technikmuseum Berlin) oder der einschlägigen Abteilungen des Deutschen Museums in München mit der faszinierenden Welt der Naturvorgänge in Berührung kommen.
Die Astronomie als Krone der Urania
Neben den Abteilungen Physik und wissenschaftliches Theater verfügte die Urania über drei weitere Abteilungen: Mikroskopie, Präzisionsmechanik und Astronomie. Letzterer kam eine besondere Rolle zu. Dies nicht nur, weil die Muse der Sternenkunde „Urania“ Namensgeberin der Gesellschaft war und die Urania unter dem Einfluss Foersters mit hochwertigen Instrumenten ausgestattet war, sondern weil die Astronomie unter den naturwissenschaftlichen Disziplinen schon immer die erste Geige im Konzert um die Ausprägung des wissenschaftlichen Weltbildes spielte. Was Wunder, wenn die Urania über das bildungsbürgerliche Publikum hinaus unzählige Arbeiter zu ihren Besuchern zählte. Dem arbeitslosen Fabrikarbeiter, Bruno Hans Bürgel (1875-1948), gelang es in den 1890er Jahren, an der Urania-Sternwarte eine Stelle als Gehilfe zu ergattern. Schon bald veröffentlichte er in der Arbeiterpresse und verdiente seinen Unterhalt als freier Schriftsteller – er brachte es auf über 1000 Feuilletons in der 1898 gegründeten “Berliner Morgenpost”. 1910 publizierte Bürgel sein Buch „Aus fernen Welten“, das „bildungsfernen Schichten“ die Astronomie nahebrachte. Seinen Aufstieg zum Volksastronom beschrieb Bürgel 1919 in der Schrift „Vom Arbeiter zum Astronomen“. Auch die Elite der Natur- und Technikwissenschaften scheute sich nicht mehr, die Urania als Marktplatz für wissenschaftliches Wissen zu begreifen. Professor Otto Lührs, der sich um die Entwicklung des Berliner Science Center Spectrum große Verdienste erworben hat, fasste die Erinnerungen von Bruno H. Bürgel, Max von Laue (1879-1960), Eugen Nesper (1879-1961) und Manfred von Ardenne (1907-1997) in einem fiktiven Dialog wunderbar zusammen.
Die Entthronung der Urania
In ihrer Glanzzeit besuchten die Urania jährlich weit über eine Viertelmillion Menschen. Die den 12-Zoll-Refraktor überwölbende Kuppel der Sternwarte in der Invalidenstraße als Krone der Urania wurde, ob der spektakulären Entdeckungen in der Physik (Röntgenstrahlen, radioaktive Strahlung), nach 1900 auch abgelegt: Die Astronomie verlor ihren Führungsanspruch und die Urania bezog 1905 ihr neues Gebäude in der Taubenstraße, das einem Tempel der griechischen Polis glich und die formale Gleichberechtigung aller physikalischer Disziplinen auch architektonisch zum Ausdruck brachte.
Während des ersten Weltkrieges kam die Tätigkeit der Urania zum Erliegen. Sang- und klanglos musste die Urania 1928 ihren Tempel der Demokratisierung des naturwissenschaftlich-technischen Wissens aus wirtschaftlichen Gründen verkaufen. So fristete sie ein nomadisches Dasein und verelendete im Dritten Reich zur aufgenordeten Schattenexistenz. Diese Geschichte und die Neuformierung der Urania in der DDR und Westberlin sind u.a. Bestandteil der Ausstellung „Mythos und Wissenschaft – 125 Jahre Urania“ und des Veranstaltungsprogrammes der Urania in diesem Jahr (www.urania.de).
Möge die Urania weiterhin ihren wichtigen Beitrag zur Demokratisierung des naturwissenschaftlich-technischen Wissens leisten.
Literatur
Lührs, Otto: Erinnerungen an die Urania, in: Wissenschaften in Berlin, Band 3, hrsgn. v. T. Buddensieg, K. Düwell u. K.-J. Sembach, Berlin: Gebr. Mann Verlag 1987, S. 163-168.
Autor dieses Beitrages
Dr.-Ing. Karl-Eugen Kurrer, Wilhelm Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Rotherstraße 21, 10245 Berlin
Chefredakteur „Stahlbau“, Editor-in-chief „Steel Construction – Design and Research“