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Historie

Das Fachwerk erobert die dritte Dimension: 150 Jahre Schwedler-Kuppel

Professor Dr.-Ing. Werner Lorenz zur Vollendung seines 60. Lebensjahres gewidmet

In seiner Gedächtnisrede vom 19. November 1894 auf Johann Wilhelm Schwedler (Bild 1) verglich Otto Sarrazin (1842-1921) den am 9. Juni 1894 Verstorbenen mit Werner von Siemens (1816-1892) und Hermann von Helmholtz (1821-1894): Schwedler sei Siemens und Helmholtz geistesverwandt und ebenbürtig, stellten sie doch die Theorie in den Dienst der Praxis. „Schwedlers Schaffen hatte überall streng wissenschaftliche Anschauung zur Grundlage, und ihm in erster Linie ist es zu danken, wenn im Bau- und Ingenieurwesen, namentlich auf dem von ihm besonders gepflegten Gebiete des Eisenbaues, die mathematisch-physicalische Richtung zur vollen Geltung gebracht ist“. Mit der Verwissenschaftlichung der Technik durch Mathematik und Physik hob Sarrazin den Hauptnenner im Schaffen von Siemens, Helmholtz und Schwedler hervor.

Johann Wilhelm Schwedler

Bild 1. Johann Wilhelm Schwedler (1823-1894)

1851 schlug Schwedler durch seine – unabhängig von Karl Culmann (1821-1881), Squire Whipple (1804-1888) und Dimitry Ivanovich Jouravski (1821-1891) entwickelte – Fachwerktheorie ein neues Kapitel der Baustatik auf. Die Fachwerktheorie beschränkte sich bis Ende des 19. Jahrhunderts auf ebene Systeme. Räumliche Tragsysteme von Bauwerken wie etwa Industriehallen, Bahnhöfe und Brücken besaßen eine orthogonale Struktur, sodass eine Zerlegung in ebene Systeme ausreichte. Hinzu kam, dass das räumliche Ingenieurdenken seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch das die Darstellende Geometrie beherrschende Verfahren der orthogonalen Projektion in Form der technischen Zeichnung geschult war. Als Erster überschritt Schwedler diesen Rubikon mit der außergewöhnlichen Kraft und Klarheit seiner räumlichen Anschauung – der „stereometrischen Phantasie“, wie er diese seltene Gabe zu nennen pflegte.

Auch bei Kuppelbauten fand die räumliche Lastabtragung zunächst keine Berücksichtigung, da die radial angeordneten Binder mit Hilfe der ebenen Statik analysiert wurden. Eine solche Kuppel über dem Gasbehälter der Imperial-Continental-Gas-Association in Berlin (Hellweg Nr. 8) stürzte 1860 während der Montage ein; Schwedler verbesserte die ein Jahr später wiedererrichtete Kuppelkonstruktion, beschritt aber den konventionellen Weg. Für denselben Auftraggeber vollzog er mit der 1863 fertiggestellten Kuppel über dem Gasbehälter in der Holzmarktstraße 28, Berlin als erster Ingenieur den Übergang zur räumlich wirkenden Kuppel, die als Schwedler-Kuppel in die Fachliteratur eingehen sollte. In der Versammlung des Berliner Architekten-Vereins am 31. Januar 1863 hielt Schwedler einen Vortrag über die Theorie der Kuppelgewölbe, die seiner statischen Berechnung zugrunde lag; am 23. Mai 1863 berichtete er dort über seine neuartige Kuppelkonstruktion und forderte den Architekten-Verein zur Besichtigung auf. Bild 2 zeigt die Entwicklungsgeschichte von weitgespannten Dächern über polygonalem Grundriß, beginnend mit durch schmiedeeisernen Zugstangen unterspannten Holzbinder (Bild 2a), sodann Ersatz der Holzbinder durch eiserne Binder (Bild 2b) und schließlich das nach einem kubischen Rotationsparaboloid geformte eiserne Raumfachwerk Schwedlers (Bild 2c). Zur Überspannung des Behälterdurchmessers von 30,38 m benötigt Schwedler nur 20,6 t Eisen – das sind 28,4 kg/m².

Gasbehälter in der Holzmarktstraße in Berlin

Bild 2. Dachkonstruktionen der Gasbehälter in der Holzmarktstraße in Berlin: a) aus Holz (1838), b) mit radial gestellten eisernen Bindern (1858) und mit der ersten Schwedlerschen Kuppel (1863)

1866 berichtete Schwedler über sein erstes Raumfachwerk und fünf weitere Schwedler-Kuppeln und schuf nicht nur ihre Theorie, sondern gab ein vereinfachtes baustatisches Rechenverfahren an. Schwedler entwickelte die Membrantheorie für axialsymmetrisch geformte und belastete Schalen und rechnete die Membrankräfte auf die Längen- und Breitenkreise um. Er verwandelte sein hochgradig statisch unbestimmtes Raumfachwerk in ein berechnenbares baustatisches Modell, indem er das Stabwerk zu einer statisch bestimmten rotationssymmetrischen Membranschale „verschmierte“, welche allein mit den Gleichgewichtsbedingungen beschrieben werden kann. Was berechenbar ist, wird gebaut. Seit 1863 erfreuten sich Schwedler-Kuppeln einiger Beliebtheit und bildeten bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts einen Gegenstand baustatischer Theoriebildung. Schwedler selbst realisierte zahlreiche Dächer mit seinem Kuppelsystem. Hier seien nur zwei Schwedler-Kuppeln erwähnt, die noch heute bewundert werden können: die 1863 entstandene Kuppel der Neuen Synagoge (Berlin-Mitte, Oranienburger Straße 28-30) und das 1875 fertiggestellte Dach der städtischen Gasanstalt in der Fichtestraße in Berlin-Kreuzberg (Bild 3). Die letztgenannte Kuppel besitzt einen Durchmesser von 54,9 m und einen Stich von 12,2 m: Dafür benötigte Schwedler nur 68 t Eisen, also 28,7 kg/m²! So lassen diese „sonderbaren Gespinste aus Raum und Zeit“ (Walter Benjamin) das ferne Licht der Geschichte aufscheinen.

Schwedlerkuppel über dem "Fichtebunker"

Bild 3. Schwedlerkuppel über dem Gasbehälter der städtischen Gasanstalt in der Fichtestraße, Berlin-Kreuzberg

In der Meisterschaft des strukturalen Komponierens von eisernen Tragwerken blieb Schwedler zu seinen Lebzeiten unübertroffen. Wesentliches Moment dieses Kompositionsprozesses ist seine konstruktionsorientierte Baustatik, in deren Mitte Schwedler statisch bestimmte Systeme stellt. In ihrem Buch „Vom Eisenbau zum Stahlbau“ überschrieb Ines Prokop den Abschnitt über die Etablierungsphase der Baustatik und des Eisenbaus (1850-1875) – d.h. der konstruktionsorientierten Baustatik – treffend mit „‘Statisch bestimmt‘ bestimmt das Tragwerk“. Schon in den frühen 1860er Jahren avancierte Schwedler zum Protagonist dieser Entwicklungsphase: Die Schwedler-Kuppel ist ein statisch bestimmtes System; ein für die Baupraxis noch Wichtigeres ist das Dreigelenksystem, dessen historisch-logische Entfaltung im 19. Jahrhundert Werner Lorenz herausschälte.

Fichtebunker

Bild 4. Die Schwedlerkuppel auf dem "Fichtebunker" in Berlin heute (Foto: ZinCo, Nürtingen)

Beruflich erreichte Schwedler Mitte der 1860er Jahre den Zenit seines Schaffens für den Eisenbau und die konstruktionsorientierte Baustatik. Gleichwohl brachte er noch immer bedeutende Ingenieurleistungen hervor: Drehbrücken ohne Rollkranz, Hebung des Kreuzberg-Denkmals und Beitrag zur Theorie des Eisenbahn-Oberbaues; mit der letztgenannten Veröffentlichung trug Schwedler entscheidend zur Validierung und Verbreitung von Emil Winklers (1835-1888) Ideen zur Analyse des Eisenbahnoberbaus im englischsprachigen Raum bei.

1878 wurde Schwedler vom preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten in die USA zum Studium der dortigen Brücken- und Eisenbauten entsandt und besuchte als Offizieller die Weltausstellung in Philadelphia. Schwedler gibt sein enzyklopädisches Ingenieurwissen in zahlreichen Ausschüssen, Kommissionen und Jurys weiter. Er wurde mit zahlreichen Ehrungen bedacht, darunter das Große Offizierskreuz des Ordens der italienischen Krone für Kunst und Wissenschaft (1881) und die Goldmedaille für Verdienste um das Bauwesen (1883). Am 9. November 1888 erlitt Schwedler einen leichten Schlaganfall, trat aber schon am 2. Januar 1889 seinen Dienst im preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten wieder an. Doch bald bittet er um Versetzung in den Ruhestand. Diese wird Schwedler nach fast 43jähriger Dienstzeit unter Verleihung des Charakters als Wirklicher Geheimer Oberbaurat mit dem Range eines Rates erster Klasse zum 1. März 1891 bewilligt. An diesem Tag überreichte eine Abordnung aus hochkarätigen Vertretern des Bau- und Ingenieurwesens, des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten, der Akademie des Bauwesens, der Reichs- und Staats-Eisenbahnbehörden, der Technischen Hochschulen und der Industrie eine künstlerisch ausgestattete Adresse mit mehr als 3500 Unterschriften, davon 500 aus dem Ausland.

Im Konstruktiven Ingenieurbau der deutschsprachigen Länder der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nimmt Schwedler den ersten Platz ein. Wie kein anderer prägte er die Konstruktionssprache des Eisenbaus. Seine Bauwerke sind Resultat eines strukturalen Kompositionsprozesses: Sie stellen das Fließgleichgewicht von Form, Funktion, Festigeit und Fertigung dar – sie konstituieren Kunst und Wissenschaft ingeniöser Konstruktionen in der Etablierungsphase des Eisenbaus (1850-1875). So ebnete Schwedler als Protagonist der Stahlbauwissenschaft dem konstruktiven Ingenieurbau seines Landes den Weg zur Weltspitze.

Bildquellen:

Bild 1: August Hertwig, Johann Wilhelm Schwedler. Sein Leben und sein Werk, Berlin: Wilhelm Ernst & Sohn 1930 (Frontispiz), Radierung von Walter Habicht, Berlin.

Bild 2: August Hertwig, Bauwesen, in: Conrad Matschoss und Werner Lindner (Hrsg.), Technische Kulturdenkmale, München: Verlag F. Bruckmann AG 1932, S. 95-126, hier S. 114.

Bild 3: August Hertwig, Johann Wilhelm Schwedler. Sein Leben und sein Werk, Berlin: Wilhelm Ernst & Sohn 1930, Tafel 7.

Bild 4: Foto: ZinCo GmbH, Nürtingen.

Literatur:

Hertwig, August: Johann Wilhelm Schwedler. Sein Leben und sein Werk. Berlin: Wilhelm Ernst & Sohn 1930.

Knothe, Klaus: Schwedler, Zimmermann und Timoshenko: Die Verbreitung und Erweiterung der Winklerschen Theorie, in: ZEVrail Glasers Annalen 127 (2003), Heft 3/4, S. 188-191.

Kurrer, Karl-Eugen: The History of the Theory of Structures. From Arch Analysis to Computational Mechanics: Berlin: Ernst & Sohn 2008, S. 475ff.

Lorenz, Werner: Die Entwicklung des Dreigelenksystems im 19. Jahrhundert. Stahlbau 59 (1990), Heft 1, S. 1-10.

Prokop, Ines: Vom Eisenbau zum Stahlbau. Tragwerke und ihre Protagonisten in Berlin 1850-1925, Berlin 2012, S. 61ff.

Stiglat, Klaus: Ingenieurbau-Kunst oder Ingenieur-Baukunst? Deutsches Ingenieurblatt 8 (2001), Heft 10, S. 62-68. – Abgedruckt in: Stiglat, Klaus Bauingenieur? – Bauingenieur! Aufsätze, Reden, Essays. Berlin: Ernst & Sohn 2012, S. 50ff.

Autor dieses Beitrages:

Dr.-Ing. Karl-Eugen Kurrer, Wilhelm Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Rotherstr. 21, 10245 Berlin

Chefredakteur „Stahlbau“, Editor-in-chief „Steel Construction – Design and Research

Leserkommentare

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Datum 31. Januar 2013
Autor Karl-Eugen Kurrer
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