Bauwerksgeburtstag
75 Jahre erste Spannbetonbrücke mit Verbund in Deutschland
Heutzutage wäre der Bau einer Autobahnüberführung von 33 Metern Länge für einen Wirtschaftsweg in einer kleinen Stadt in Nordrhein-Westfalen vermutlich nicht der Rede Wert – von Meldungen im Verkehrsfunk zur Autobahnsperrung bei ihrer Errichtung vielleicht abgesehen. Und selbst vor 75 Jahren, als zwischen Beckum und Oelde die Autobahn A 2 bei der Bauernschaft Hesseler überführt wurde, war den Erbauern wahrscheinlich nicht ganz klar, was sie da im Sommer 1938 errichtet hatten. Zu diesem Zeitpunkt war nur eine andere Brücke mit vorgespanntem Beton in Deutschland errichtet worden, die Bahnhofsbrücke im sächsischen Aue. Dort kam sogar die heute vermeintlich so innovative externe Vorspannung zum Einsatz. Bei der Brücke über die A2 kamen allerdings zum ersten Mal Spannglieder im Verbund zum Einsatz.
Lizenz für das Spannverfahren von Eugène Freyssinet
Die Firma Wayss & Freytag hatte 1935 die exklusive Lizenz für die Patente von Eugène Freyssinet in Deutschland erworben und hatte bereits Versuchsträger hergestellt. Auf diese Erfahrungen aufbauend entstand eine Fabrik für Spannbetonrohre und eine 40 Meter lange Spannbettanlage für Deckenbalken. Der Auftrag für die Errichtung der Überführung in Beckum erfolgte daher noch zu einem recht frühen Zeitpunkt in der Entwicklung des Spannbetonbrückenbaus in Deutschland. Als Einfeldbrücke war die Überführung ein idealer Test für den neuen Baustoff. Ähnlich wie es auch heute noch geschieht, wurden die Träger als Einzelbalken in einem stählernen Spannbett gefertigt. Dieses befand sich in diesem Fall noch direkt hinter dem Widerlager und der damals verwendete I-Querschnitt ist heute in Deutschland im Brückenbau nicht mehr üblich, findet dafür in vielen anderen Ländern noch rege Verwendung. Die insgesamt vier Träger wurden dann längs verschoben und anschließend über eine Ortbetonplatte miteinander verbunden. Das Prinzip des heutigen Bauverfahrens von Brücken aus Spannbetonfertigteilen war damit erstmalig und erfolgreich angewendet worden. Eugène Freyssinet soll den Bau persönlich vor Ort mitverfolgt haben, da er bis dahin selbst noch keine Brücke in dem Material errichtet hatte. Die in Beckum verwendeten Spannbettformen kamen bis 1939 noch in Kiel beim Bau einer Hafenmole, sowie bei Brückenbauten in Hamburg und Brunsbüttelkoog zum Einsatz.
Als Baudenkmal erhalten
Die Eröffnung der Brücke fand am 12. November 1938 statt und sie verrichtete fast genau 74 Jahre lang ihren Dienst. Gotthard Franz (1904-1991), der bei der Ausführungsplanung für den Kippsicherheitsnachweis verantwortlich war, bescheinigte ihr noch 1991 einen guten Zustand. Am 24. Januar 1991 wurde sie auch als technisches Denkmal gewürdigt. Als dann vor einigen Jahren trotzdem die Planungen für einen Ersatz der Brücke begannen, wurde eine interessante Lösung für den weiteren Erhalt der Brücke erarbeitet: Das Baudenkmal sollte nicht abgerissen, sondern als ganzes versetzt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Eine Sanierung und Verstärkung wäre ähnlich wie beim Tausendfüßler in Düsseldorf mit einem Verlust des Denkmalstatus’ einhergegangen. Mit Genehmigung der zuständigen Denkmalbehörde wurde dann am 29. September 2012 die Autobahn gesperrt und die Brücke über Nacht von ihren Widerlagern gehoben und ca. 1,5 km versetzt. Heute ist der Überbau auf der Rastanlage Vellern-Süd in Fahrtrichtung Hannover nicht nur zu bewundern, sondern auch zu begehen. Auch das mitgebrachte Picknick lässt sich dort recht gemütlich verzehren. Vielen wird wahrscheinlich aber nicht klar sein, dass sie sich dabei auf der ältesten noch im Original erhaltenen Spannbetonbrücke der Welt befinden.
Quellen
- Structurae: Brücke Hesseler Weg
- Franz, Gotthard: “Gotthard Franz” in Beton- und Stahlbetonbau, Band 86, Heft 1 (Januar 1991)
- Grute, Jupp & Bernard Marrey: Freyssinet, Der Spannbeton und Europa, Editions du Linteau, Paris, 2000 (ISBN 2-910342-13-1)
- Straßen.NRW: A2: Brückenbaudenkmal der Öffentlichkeit übergeben
Leserkommentare
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Cengiz Dicleli | 3. Dezember 2013
Die Kritik von Nicolas Janberg, dass die Bauingenieure im Gegensatz zu den Architekten nicht gewohnt sind, Konstruktionen zu kritisieren, ist zweifellos richtig. So wundert es einem nicht, dass wir auch massive Schwierigkeiten beim Denkmalschutz haben, wenn es um das Schicksal unserer Konstruktionen geht. Der Tausendfüßler war leider zu groß, um irgendwohin verschoben und abgestellt zu werden. „Glücklicherweise“ kann ich nur sagen, wenn ich mir anschaue, was die Ingenieure und Denkmalschützer mit Freyssinets Brücke angestellt haben. Es fällt mir leider sehr schwer, mich darüber zu freuen, dass sie dadurch wenigstens erhalten blieb. Abgestellt auf einer fernen Rastanlage, zum fein herausgeputzten Möbelstück degradiert und freigegeben zum Picknicken. Dieses Bild macht mich traurig. Kann es sein, dass man da nicht einmal eine Tafel angebracht hat, um die Rastenden zu informieren, damit sie sich über die seltsame Picknickstelle nicht wundern? Hätte man nicht eine andere, würdigere Lösung finden können?