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AUSFAHRT

Scharffenberg-No-CarSalomon Scharffenberg, No Car, Eine Streitschrift für die Mobilität der Zukunft, oekom-Verlag, München 2020, ISBN: 978-3-96238-170-7, Softcover, 232 Seiten, 19,- €, E-Pub 14,99 (Cover - oekom Verlag)
Kein Auto, oder – fast zutreffender: „Keine Karre“, macht so ein Titel Leselust? Reicht denn nicht die Pandemie mit all ihren argen Folgen; will der Autor eines solchen Buches uns auch noch den Spaß am Autofahren nehmen? I wo! Lautet doch der Untertitel: Eine Streitschrift für die Mobilität der Zukunft – also artig „für“, nicht „gegen“. Wobei gewisse Teile der Mobilität, soweit sie grade nicht das Auto betreffen, ja derzeit stark ins Fragliche gerieten. Das wäre, wenn das Buch denn einen Haken hätte, ein solcher: Die Ausfahrt mit dem Auto ist auf absehbare Zeit nicht aus, sondern alltagshygienisch beliebter denn je.
Das Buch aber erschien kurz bevor das Virus Karriere machte und dennoch nicht zur Unzeit. Auch deshalb nicht, weil just vor den Toren der Stadt Berlin von einem der augenblicklich weltweit erfolgreichsten Unternehmer eine viel gepriesene, Arbeitsplätze verheißende E-Autoproduktionsstätte aus dem Boden gestampft wird, mir der paradiesische Mobilitätszeiten beschworen werden. Das Buch macht durch diese Rechnung einen Strich. Es weist auch u. a. auf so interessant Umstände wie die hin, dass die Länge der Straßen hierzulande seit 1994 um 250.000 km, die der Schiene im nämlichen Zeitraum um 1.700 km zunahm. Oder dass ein Auto 25mal schwerer als sein Fahrer ist, das Fahrrad aber 4mal leichter; das führt dazu, dass 9,5 l Sprit eines 10 l pro 100 km schluckenden Autos für seinen eigenen Transport und 0,5 l für den des Fahrers benötigt werden. Oder – darf man das auf dem Portal eines Bauverlags schreiben? – dass ganz Deutschland beim derzeitigen Flächenverbrauch für Verkehrs- und Siedlungsflächen in 80 – 100 Jahren zugebaut ist? Man darf, wo das Bauen der Zukunft nicht erst in COVID-19-Zeiten eindeutig Bauen im Bestand und Umwidmen heißt,
Stehzeug
Salomon Scharffenberg lässt von der ersten Seite des zügig lesbaren Buches an keinen Zweifel an Mobilität als auf dem Spiel stehendem Thema, bei dem das Auto „nur“ ein Hauptaspekt ist. Hätten wir weltweit deutsche Verhältnisse von 600 Autos auf 1.000 Einwohner, gäbe es auf unsrem malträtierten Globus 4,2 Mrd. Fahrzeuge – oder besser „Stehzeuge“, wie der Autor sie nennt. Denn ein Auto wird in Deutschland pro Tag nur wenige Minuten bewegt und zwei Drittel aller Fahrten betreffen Distanzen unter zehn Kilometern, die also bequem mit Fahrrad, öffentlichen Verkehrsmitteln, wo nicht gar per pedes zu bewältigen wären. Und hier zeichnet sich die Kernthese des Buches ab. Dass das Auto in erster Linie Fußwege substituiert hat, ergaben bereits ein Vierteljahrhundert alte Untersuchungen. Von klassischen Aufregern wie CO2, Ressourcenverbrauch, Lärm etc. mit allen ihren ökologischen und gesundheitlichen Implikationen und alle weiteren sattsam bekannten Aspekte, die das Buch allesamt durchdekliniert, muss da gar nicht die Rede sein. Es geht dem Autor auch darum, zu zeigen, „dass ‘Freude am Fahren’, Lebensqualität und Mobilität gar nicht an das Auto gebunden sind“ und dass – ja: wir ohne Auto besser leben. (S. 15) Oder – um genauer zu sein, und dem Tenor des Buches gerecht zu werden: dass wir mit Auto nicht mehr lange werden leben können.
Ressourcen und westlicher Lebensstil
Das zu belegen, bemüht der Autor den inzwischen etwas strapazierten Begriff der „Disruption“, von der die Geschichte der Menschheit voll sei. Sie hätten nicht nur die Technologie – wie derzeit in Sachen Digitalisierung – sondern auch die Lebensstile grundlegend verändert. Und letzteres müsse, so Scharffenberg, in Sachen Verkehrswende gar nicht unbedingt stattfinden. Sei doch nicht die Zahl der Menschen zu groß, die an den vorhandenen Ressourcen partizipieren, sondern „der westliche Lebensstil“ (der Autor lässt offen, ob es derzeit einen anderen gibt …) passe „nicht zu den vorhandenen Ressourcen.“ Und da kommt das Auto maßgeblich ins Spiel: „Autos, erst recht E-Autos, brauchen so viele Rohstoffe, dass sie unmöglich für alle reichen können.“ (S. 18)
En passant räumt der Autor auch mit dem Gerede von der Auto- als Schlüsselindustrie für Arbeitsplätze auf, dem sich inzwischen ja die Politiker jedweder Couleur beugen. 880.000 Menschen arbeiten hierzulande „direkt für die Autoindustrie, weitere 870.000 indirekt“ (S. 21) als Zulieferer. Das ergibt vier Prozent der Erwerbstätigen. Doch seien gemessen am Umsatz die Autobauer tatsächlich wichtigster Industriezweig im Lande, wo andere Wirtschaftszweige mit vergleichbaren Beschäftigtenzahlen viel weniger erlösen. Das Auto ist nun mal ein hochpreisig gestaltetes Produkt … – während existentiell notwendige Güter in Deutschland niedrigpreisig bis pervers billig sind. Doch müsse man sich auch um die rund 1,75 Millionen Menschen, deren Arbeitsplatz vom Stehzeug abhängt, kaum Sorgen machen. Auf der aktiven Umgestaltung von Mobilität scheint hier Beschäftigungs-Segen zu ruhen, indem vieles dafür spreche, dass durch die Abschaffung des Autos in Summe mehr Arbeitsplätze entständen als wegfielen, wofür der Autor entsprechende Studien zitiert, die sich mit den Arbeitsmarkteffekten einer Verkehrswende befasssen, und die einer nachhaltigen Verkehrsgestaltung via Ausbau des ÖPNV einen positiven Einfluss auf die Beschäftigung attestieren.
Ausstieg aus dem sanften Einstieg in den Ausstieg
Es gehe, betont der Autor, bei einer umfassenden Mobilitätswende aber nicht nur darum, das Auto wegzubekommen, sondern um viel Platz für etwas Neues. „Ein ‘Bundeskraftfahrzeugbeseitigungsgesetz’, oder besser ein ‘Bundesmobilitätsoptimierungsgesetz’ … sollte … regeln, wie privater und öffentlicher Verkehr künftig auszusehen haben.“ (S. 23) Und dabei gehe es um Investitionen für die Zukunft, die bei all ihrem Plausiblen, so geht ein arges Vermuten, in Zeiten der Pandemie doch fern und ferner sind. Da hilft auch kein Träumen von einem sanften Einstieg in den Ausstieg aus dem Autoverkehr via längst überfälligem Tempolimit, einer Citymaut oder einer Deckelung der Modellpaletten auf Höhe der sogenannten Golf-Klasse.
Mit letzterer wären wir bei Volkswagen und dem Abgas-Skandal, durch den sich bis in die FAZ rumgesprochen hat, dass inzwischen „auch dem treuen VW-Fahrer“ dämmere, „dass Autos mit Verbrennungsmotoren fossile Auslaufmodelle“ seien. (S. 27) Noch nicht rumgesprochen habe sich bei der Autoindustrie freilich, dass sie, die derzeit zu 99,9 Prozent auf Verbrennern basiere, ohne die Abschaffung des Autos keine Zukunft habe. Gehe es um Disruption, gehe es um Unternehmen aus der Software und dem Consulting, während die Autoindustrie eine Erfindung aus dem Jahre 1893 für das Nonplusultra halte. (S. 27) Bei dieser Jahreszahl braucht es nur einen Dreher der beiden mittleren Ziffern: 1983 baute Volkswagen den ersten Santana in der VR-China. Ein Auto halt. Heute berät man darüber, ob Hua Wei am hiesigen 5G-Netz mitbauen dürfe, wo es doch vielmehr so sein sollte, meint der Autor, dass die deutsche Digitalwirtschaft ihre Produkte bis in die VR China exportiere. Unterdessen komme nicht ein einziger Player der Cloudindustrie auch nur aus Europa.
Jenseits der Bewusstseinsschwelle
Ausführlich denkt der Autor auf den 200 Seiten des Bandes noch über die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Implikationen einer autofreien Mobilität nach, ohne dass das hier zur Darstellung gebracht werden könnte. Einzugehen wäre unterdessen aber auf die beiden Schlusskapitel des rundum anregenden Werkes, die der Frage nachgehen, was wir durch einen Autoausstieg verlieren und was wir gewinnen.
Verloren ginge, so der Autor, ein gewisser Spaß, eine gewisse Faszination, der sich keiner im Angesicht bestimmter Automodelle entziehen könne. Dies womöglich noch mehr, seit die klassische Kombi aus Auto und leicht bekleideter Frau zugunsten der aus Auto und Landschaft zurückgetreten sei (S. 183) und letztere uns ein Freiheitskonzept vorgaukelt, das für einige Philosophen des 20. Jhs. das Auto philosophisch relevant (etwa für Günther Anders), für andere (namhafte wie Anders’ Freund Theodor W. Adorno) grade nicht machte, worauf der Autor freilich nicht eingeht.
Wohl sieht er aber das Problem der „Habitusprägungen“, die „jenseits der Bewusstseinsschwelle verlaufen und wegen der es „in der Regel auch erfolglos“ bleibe, „an ‘Einsicht’ und ‘Vernunft’ zu appellieren.“ Als klassischen Rückkopplungseffekt erkennt er, dass keiner freiwillig auf sein Auto verzichte, weil er damit allen anderen den Raum überließe, den er selbst gern hätte. Verzichtete ein Drittel ökologisch bewegter Menschen aufs Autofahren, würden die anderen zwei Drittel bald umso mehr fahren und der automobile status quo ante sei bald wieder erreicht. Der Appell an den Einzelnen erweist sich hier leicht als kontraproduktiv. „Gemeinwohlgüter könnten so wenig durch freiwillige individuelle Käuferentscheidungen geschützt werden wie durch ein freiwilliges Verhalten der Konzerne. Nur veränderte Marktregeln, welche das Verhalten aller Marktteilnehmer steuern, könnten den Schutz von Gemeinwohlgütern erreichen. (S. 186) So zutreffend und politisch äußerst schwer umsetzbar man das finden kann, kommt man nicht umhin, zu realisieren, dass das der Verlust-Frage nachgehende Kapitel noch da dürftig ausfällt, wo der Autor sich zu dem Reiz einer Cabrio-Spritztour an der Côte d’Azur bekennt, das Kapitel abschließend aber nur eher matt fragt, wie viel davon wir vermissen werden.
Entkopplung
Da fällt das Gewinn-Kapitel schon eindrücklicher aus. Nicht nur die Last, nicht mehr Auto fahren zu müssen sei ja schon Lust, die Liste an Gewonnenem erkennt der Autor als deutlich länger: moderne Gesellschaft, Natur, Energie, Lebensqualität, Gesundheit sowie Fortschritt und Optimismus fallen ihm hier ein. Und hier fährt er immerhin einem längst fragwürdig gewordenen Fortschrittsverständnis in die Parade, das in der Lösung des Dilemmas aus gleichzeitig grün und doch wachstumskapitalistisch besteht: das ökologische wird zum allein technischen Ziel erklärt und alle gesellschaftlichen Aspekte außen vorgelassen. Dann geht es nicht mehr um weniger, sondern um andere Mobilität und schon wird Elon Musk zum grünen Messias und Elektromobilität zum sakrosankten Credo. Da wird noch der Kauf eines Porsche Cayenne zur ökobewussten Konsumentscheidung, vorausgesetzt, er hat Hybridantrieb. (S. 192) – Der notorische Weg aller ökologischen Nachhaltigkeit zur Produkteigenschaft. „Entkoppelung“, nämlich des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch, die physikalisch eine Unmöglichkeit darstelle, lasse sich immerhin durch Effizienzgewinne relativ beschreiben. Und das „wiege die Verfechter eines ‘grünen Wachstums’ in ihrem Glauben“ dass man beides könne: „an der systemischen Steigerungslogik der Wachstumswirtschaft festhalten und zugleich der drohenden Apokalypse trotzen.“ (S. 192)
So sehr diese nicht ganz neue Analyse ihr Stimmiges hat, so leicht skeptisch bleibt der Leser zurück, wenn Scharffenberg mit dem bedingungslosen Grundeinkommen sowie der Agrarwende gewiss wichtige Aspekte für den Zusammenhang zum Autoausstieg benennt, sie hier aber als „flankierende Maßnahmen“ für einen tatsächlich ökologischen und sozialen Umbau der Gesellschaft bemüht. Da wird dann auch noch der ansonsten eher fragwürdiger Lösungen bezichtigte Elon Musk mit der nicht ganz neuen Robotertheorie zitiert, der zufolge für die Menschen ob entfallender stupider Arbeit, Zeiten der Muße anhöben, die erst die neue Gesellschaft verhießen.

In 80 Jahren könnte beim derzeitigen Straßenbau-Umfang mit Landschaft nicht mehr geworben werden. (Foto: xphere)
Konzeptioneller Optimismus
Doch erschöpft das Buch sich darin nicht, wenn es auf seinen letzten beiden Seiten auf einen „konzeptionellen Optimismus“ abhebt. Gebe es doch, „während uns der ‘ökologische Fußbadruck’ daran erinnere, dass wir über unsere Verhältnisse lebten, … die ergänzende Größe des „ökolgischen Handabdrucks“, die zeige, was an ökologischem Fortschritt bereits erreicht wurde – wozu, wie sich derzeit ja immer deutlicher abzeichnet, das Virus das Seinige beiträgt … Und schließlich gebe es noch mehr Mut Machendes, wo sich ein Umdenken bei urbaner Mobilität zeige, indem immer mehr Menschen Druck auf die Automobilindustrie ausübten, nicht zuletzt die Fridays-for-Future-Bewegung, gegen die, wie sich ebenso deutlich abzeichnet, das Virus auch das Seinige beiträgt … Natürlich konnte der Autor bei Verfassen des Textes davon nichts ahnen. Das macht die Tragik aus, die einen bei Lektüre eines Buches überkommen kann, das traumhaft ruhige (Bei E-Autos bliebe das schon bei Benzinern den Motorlärm längst übertönende Reifenabrollgeräusch – wohl auch noch beim serienreifen, so genannten „Flüsterasphalt“), gesündere und frischluftigere Zeiten mit no car möglich erscheinen lassen – und nicht nur möglich, so lesen wir den Schlusssatz des Buches: „Der wichtigste Grund, optimistisch zu sein, ist, dass die autofreie Lebensweise nicht noch erfunden werden muss. Sie ist schon Wirklichkeit.“
Nachzutragen bliebe zum einen, dass das Buch ein besseres Lektorat verdient hätte, wo Redundanzen und teils divergierende Nennungen derselben Fakten das ansonsten auch didaktisch lockere Parlando des Buches leicht zu text on demand machen können und zum anderen dankenswerterweise vom Autor genannte, relevante sites für den Optimismus einer autofreien Welt: auotfrei.de; auto-frei.ch oder carfree.com.
Scharffenberg-No-CarSalomon Scharffenberg, No Car, Eine Streitschrift für die Mobilität der Zukunft, oekom-Verlag, München 2020, ISBN: 978-3-96238-170-7, Softcover, 232 Seiten, 19,- €, E-Pub 14,99