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„Carbon, übernehmen Sie!“ – Leichtbauforum an der TU Berlin

„Carbonfasern können das Bauen revolutionieren.“ Unter diesem Leitspruch stand die Veranstaltung „Bauen mit Carbon“ am 26. Februar an der TU Berlin. Die Referentenliste der als „Visionsforum“ betitelten Tagung las sich wie ein Who-is-who des Leichtbaus im deutschsprachigen Raum. Dieser Umstand hat sicherlich nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die Veranstaltung angesichts von fast 300 Teilnehmern kurzfristig in einen größeren Hörsaal verlegt werden musste.

Dr. Hubert Jäger (SGL Group) legte zunächst in seiner Begrüßung die Motivation und die Zielsetzung der Veranstaltung dar. Auf das Bauen kämen weltweit in den nächsten Jahren große Herausforderungen zu, die in erster Linie aus dem Bevölkerungswachstum resultierten. Um die künftigen Bauaufgaben erfüllen zu können, müsse das Bauen effizienter werden, stellte Jäger fest. Der Ressourcen- und der Energieverbrauch müssten gesenkt werden. Das Bauen mit Carbon könne hier einen wichtigen Beitrag leisten.

Prof. Mike Schlaich

Prof. Mike Schlaich war Gastgeber des Visionsforums "Bauen mit Carbon" (Foto: Petzold, TU Berlin)

Prof. Mike Schlaich (TU Berlin) setzte sich zu Beginn seines Vortrages mit dem Begriff „Vision“ auseinander, wobei er feststellte, dass das in solchen Zusammenhängen obligatorische Helmut-Schmidt-Zitat („Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“) hier nicht einschlägig sei. Er schlug stattdessen eine an Spinoza angelehnte Sichtweise vor, nach der Visionen als „lustvolles Ausmalen der Zukunft“ gälten. Prof. Schlaich stellte dann mögliche Anwendungsgebiete von Carbon im Bauwesen vor – Schrägseilbrücken, Hängebrücken, Spannbandbrücken, Stadiondächer – und erläuterte einige Forschungsvorhaben und bereits realisierte Prototypen. Besonders betonte er den Entwicklungsbedarf hinsichtlich werkstoffgerechter Verbindungselemente, die noch nicht in ausreichendem Maße vorhanden seien.

Prof. Urs Meier (EMPA, Schweiz) stellte Anwendungsmöglichkeiten von CFK-Zuggliedern im Brückenbau vor. Mit Seilen aus CFK seien zwar aufgrund des geringen Eigengewichts und der hohen Zugfestigkeit größere Spannweiten möglich, problematisch sei jedoch die höhere Schwingungsanfälligkeit, die aktive Schwingungsdämpfung erfordere. Für Zugglieder aus CFK spräche die geringe Korrosionsanfälligkeit im Vergleich zu Hängern und Seilen aus Stahl. Ein weiterer Vorteil sei die hohe Ermüdungsfestigkeit. Gegen CFK spreche der heute noch relativ hohe Preis. Bei Verstärkungen von Betonbauteilen seien CFK-Lamellen jedoch bereits Stand der Technik, erklärte Meier. Insgesamt sah Prof. Meier keine Revolution im Sinne einer Verdrängung althergebrachter Baustoffe durch Carbon, sondern er betonte, dass Carbon für Spezialanwendungen geeignet sei und das Spektrum der Baustoffe erweitere.

Prof. Jan Knippers (Universität Stuttgart) machte gleich zu Beginn seines Vortrages deutlich, dass er einen grundsätzlich anderen Ansatz verfolgt. Es ginge ihm nicht darum, in bekannten Tragwerkstypen Stahl durch Carbon zu ersetzen, sondern seine zentrale Intention sei die Entwicklung gänzlich neuer Tragwerkstypen nach dem Vorbild der Natur. Bei den in der Natur vorgefundenen „Tragwerken“ seien Eigenschaften wie hierarchische Strukturierung und Multifunktionalität der „Bauteile“ besonders auffällig. Prof. Knippers führte faszinierende Beispiele aus der Welt der Biologie an: Oberschenkelknochen, Deckflügel von Käfern, bewegliche Strukturen bei Pflanzen. Es stelle sich die Frage, welche dieser Prinzipien auf das Bauwesen übertragen werden können. Bei einigen Projekten sei dies bereits erfolgt, z. B. beim Bau adaptiver Fassaden.

Textilbetonbrücke

Textilbetonbrücke in Kempten (Foto: TU Dresden)

Auch Prof. Manfred Curbach (TU Dresden) verwehrte sich zu Beginn seines Vortrages gegen die Helmut Schmidt zugeschriebene anti-visionäre Haltung. Vielmehr sei der Begriff „Vision“ positiv im Sinne einer mit Verstand erzeugten Vorstellung von der Zukunft zu verstehen. Prof. Curbach stellte dann die Anwendungsmöglichkeiten von Textilbeton vor, wobei er auf Verstärkungsmaßnahmen von Betonbauwerken und auf  Fußgängerbrücken aus Textilbeton einging. Im Gegensatz zu Prof. Meier sieht Prof. Curbach jedoch in der Tat eine Revolution auf das Bauwesen zukommen. In 50 Jahren werde Stahlbeton komplett durch mit Carbon bewehrten Beton ersetzt sein. Wichtige Grundlagen dafür würden im Forschungsprojekt C³ (carbon concrete composite) gelegt. Daher schloss Prof. Curbach seinen Vortrag mit einer Abwandlung des Titels der bekannten 70er-Jahre-Fernsehserie „Cobra, übernehmen Sie!“ und erntete dafür einigen Applaus: „Carbon, übernehmen Sie!“.

Dr. Hans-Peter Andrä (Leonhardt Andrä & Partner) beschäftigte sich anschließend mit der Anwendung vorgespannter CFK-Lamellen und dabei vor allem mit ihrer Verankerung. Er berichtete zudem über einen Schadensfall und wie daraus gelernt wurde. Ein beidseitig auskragender Pfeilerkopf war mit CFK-Lamellen verstärkt worden, wobei die Lamellen nach zwei Jahren gerissen waren. Die Ursache dafür fand sich in der fehlenden Alkalibeständigkeit der Matrix der Lamellen, woraufhin die Hersteller die Fertigung entsprechend umstellten. Des Weiteren wurden infolge der Untersuchungsergebnisse die Zulassungsversuche für CFK-Lamellen verändert. Dr. Andrä machte zum Abschluss deutlich, wie wichtig die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Entwicklung neuer Bauweisen sei.

Im Vortrag von Prof. Nguyen Viet Tue (TU Graz) ging es einerseits um carbonfaserverstärkten Ultrahochleistungsbeton (UHPC) und andererseits um die Schwierigkeiten, Forschungsergebnisse in die Praxis zu transferieren. Prof. Tue stellte zunächst anhand von gebauten Beispielen die Vorzüge von UHPC vor. In erster Linie sei hier das geringe Gewicht der Konstruktionen zu nennen. Häufig kämen für UHPC Stahlfasern als Bewehrung zum Einsatz. Die Nachteile seien Verletzungsgefahr durch aus der Oberfläche ragende Fasern und ästhetische Probleme durch Roststellen. Beides trete bei Carbonfasern nicht auf. Als ein besonderes Anwendungsbeispiel stellte Prof. Tue einen Brückenablauf aus carbonfaserbewehrtem UHPC vor. In Österreich sei dieser Ablauf bereits zum Einsatz gekommen, was belege, dass der Transfer in die Praxis dort mitunter leichter sei als in Deutschland.

Der Flugzeugbauer Prof. Klaus Drechsler (TU München) verglich die verschiedenen Anwendungsgebiete von Carbon hinsichtlich Motivation und Anforderungen. Dabei wurden Flugzeugbau, Fahrzeugbau, Windenergie und Bauwesen gegenübergestellt. Auch Anwendungsbeispiele aus den vier Gebieten stellte Prof. Drechsler vor, wobei er vor allem auf die Herstellungsverfahren von Bauteilen aus Carbon (Wickeln, Flechten) einging. Die Werkstoff- und Anlagenkosten seien zwar hoch, das Potenzial für Carbon im Bauwesen jedoch erheblich. Besonders hob Prof. Drechsler multifunktionale Sandwichstrukturen hervor, die im Flugzeugbau entwickelt würden und deren Prinzipien sich auf das Bauwesen übertragen ließen.

Adaptive Schale in Stuttgart

Adaptive Schale in Stuttgart (Foto: Bosch Rexrodt)

Prof. Werner Sobek (Universität Stuttgart) leitete seinen Vortrag mit einer Betrachtung zu den künftigen Bauaufgaben ein, die er ähnlich wie Dr. Jäger vor allem im Bevölkerungswachstum begründet sah. Daraus folge die Forderung, effizienter zu bauen, wofür der Leichtbau ein geeigneter Weg sei. In Zukunft müsse leicht, ressourcenschonend und recyclingfähig gebaut werden, wobei es zu keiner „Entsagungsästhetik“ kommen dürfe. Man müsse allerdings noch einen Schritt weiter gehen. Die nächsthöhere Stufe nach dem Leichtbau sei der Ultraleichtbau, der durch reagierende Bauwerke gekennzeichnet sei. Prof. Sobek stellte als Beispiel eine in Stuttgart gebaute Schalenkonstruktion vor, die durch hydraulisch bewegliche Auflager in der Lage ist, ihre Form je nach Belastungssituation so zu verändern, dass eine optimale Spannungsverteilung erreicht wird. Diese Schale folge dem Prinzip des Ultraleichtbaus „Material weg – Energie rein“. Insofern würde „mit Energie gebaut“, was erheblich effizienter sei, als die Energie in das Material zu stecken.

Prof. Peter Offermann (Tudalit e.V.) beschäftigte sich abschließend noch einmal mit dem Begriff „Vision“. Nach seinem Verständnis sei eine Vision eine Zukunftsvorstellung auf der Basis von Erfahrung. Er beschrieb in einem kurzen Rückblick die Entwicklung der Forschung zum Textilbeton in den Sonderforschungsbereichen in Aachen und Dresden sowie die Geschichte des Tudalit e.V. Die ersten grundlegenden Erfahrungen beim Bauen mit Carbon und anderen Leichtbaustoffen seien gemacht und der weiteren Entwicklung stünden alle Türen offen. Prof. Offermann forderte alle Teilnehmer des Visionsforums dazu auf, die Entwicklung des Bauens mit Carbon weiter voranzutreiben und die großen Potenziale des Baustoffs zu nutzen.

In der sehr gelungenen Veranstaltung wurde deutlich, dass angesichts der immensen Bauaufgaben der Zukunft visionäre Ansätze gefragt sind. Die Anforderungen der nächsten Jahrzehnte können nicht mit herkömmlichen Baustoffen allein erfüllt werden. Für Deutschland bieten sich hier große Chancen, sich als Technologieführer beim Leichtbau und speziell beim Bauen mit Carbon zu positionieren.

Weitere Informationen:

SGL Group

Tudalit e. V.

C³ – carbon concrete composite

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Datum 28. Februar 2014
Autor jv
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