momentum magazin für Bauingenieure präsentiert von Ernst & Sohn
Vermischtes

Die relative Stabilität

Selma, Alabama, USA, Sommer 2001

Selma, Alabama, USA, Sommer 2001 (Bau-Auslese)

Kurz vor dem Corona-Alarm kam der Klima-Alarm. Es gab Menschen, die prognostizierten einen “Klima-Kollaps”. Und wegen Corona wurde das Szenario eines Kollapses des Spitalwesens in dramatischen Farben an die Wand gemalt. Es ist in beiden Fällen schwierig, sich die Vorgänge bildlich vorzustellen. Eingetreten sind sie bis heute glücklicherweise nicht. Ein Kollaps ist immer ein Schock. Im Bauwesen ist er eine Katastrophe. “Firmitas”, Festigkeit, heißt die erste Maxime in der Trias des römischen Bau- und Architekturgelehrten Vitruv. Die vorrangigste Eigenschaft eines Bauwerks ist jene, nicht zu kollabieren und sämtlichen Einwirkungen standzuhalten.

Das Wort Kollaps kommt aus dem Mitellateinischen: con- = «zusammen, mit», labi = «sinken, gleiten», sagt das Onlinelexikon. Es bedeutet gemäss derselben Quelle “das plötzliche Ende der Funktionsfähigkeit eines Körpers oder Systems” und wird auch häufig in der Medizin verwendet. Es schwingt da etwas Endgültiges, Apokalyptisches mit: Nach einem Kollaps ist definitiv Schluss, könnte man meinen. Das stimmt aber selten. “Ein Kreislaufzusammenbruch mutet dramatisch an, ist in den meisten Fällen aber harmlos,” sagt das Online-Gesundheitslexikon. Organisationssysteme können nach dem Kollaps und einer Erholungsphase ihre Funktions- und Betriebstüchtigkeit zurückerlangen. Trotzdem muss man Warnungen vor einem Kollaps ernst nehmen, gerade im Bauwesen.

Kollabierende Häuser oder Brücken sind auf den Verlust von “Firmitas” zurückzuführen. Gründe können Ermüdungserscheinungen des Materials oder außerordentliche physische Einwirkungen sein. Oft bedeutet der Kollaps das Ende einer Struktur – aber nicht unbedingt jenes ihrer Bestandteile. In Deutschland befreiten die berühmten Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg die Backsteine der Ruinen vom Mörtel und sortierten sie, zwecks Wiederverwendung. Gelegentlich ist der Kollaps auch nur ein Teilkollaps – und Teile der Struktur lassen sich weiterverwenden und mit An- und Ausbauten ergänzen.

Ein Kollaps zeigt die Relativität von Standfestigkeit und Stabilität. Man kann nach dem Ereignis mit verwertbaren Trümmern und Reststrukturen rechnen – und kann oft auf sie bauen. Dies sollte eigentlich in Planungsverfahren immer berücksichtigt werden. Im Idealfall finden mögliche Kollabierungs-Szenarien bereits Eingang in die frühe Phase der Entwicklung eines Werks. Konzepte zur Erdbebensicherheit befassen sich mit dem strukturellen Verhalten im Katastrophenfall. Doch auch das materielle und strukturelle Potenzial nach dem Kollaps verdient Aufmerksamkeit.

Schreibe einen Kommentar…

Datum 19. Februar 2021
Autor Manuel Pestalozzi
Schlagwörter , , ,
Teilen facebook | twitter | Google+