momentum magazin für Bauingenieure präsentiert von Ernst & Sohn
Gespräch

„Die Verschränkung von Erkennen, Gestalten und Verantworten“

Im 2. Teil des Gesprächs mit Karl-Eugen Kurrer, aus Anlass der 2. grundlegend überarbeiteten und erweiterten Auflage seiner „Geschichte der Baustatik – Auf der Suche nach dem Gleichgewicht“, lesen Sie über die Entwicklung des Bauingenieur-Berufs seit dem 18. Jh., über den Einfluss des französischen Chaussee-Baus, über das Verhältnis von Statik und Wagnis, den Einfluss der Mathematik auf die Statik, die Software-Ästhetik zeitgenössischen Bauens sowie über Goethes „zarte Empirie“ …

momentum: Herr Kurrer, Sie vertreten die These, der Bauingenieur sei nicht nur aus der Spaltung des alten Baumeisters und Architekten hervorgegangen

École des Ponts et Chaussées

Die École des Ponts et Chaussées nach einem Gemälde von L.-J. Desprez um 1780 (Ernst & Sohn)

In erster Linie ist der moderne Bauingenieur eine Geburt des Ancien Régime, also des Absolutismus. Und zwar hat er sich aus dem von Vauban gegründeten Corps du génie militaire Frankreichs und später auch Italiens, Österreichs und Preußens entwickelt. Frankreich war in dieser Hinsicht Vorbild für die anderen europäischen Staaten. Einer der Mitarbeiter Vaubans war Hubert Gautier. Bei Gautier spielte der Straßen- und Brückenbau alsbald eine Schlüsselrolle, der dann auch an der 1747 gegründeten École des Ponts et Chaussées institutionalisiert wurde. Diese Ingenieure gestalteten mit ihren Straßen, Brücken, Kanälen etc. und den dafür notwendigen Erdarbeiten die Landschaft des absolutistischen Zentralstaats im großen Stil. Man muss sich das mal vorstellen: Die haben das ganze Land mit Chausseen durchzogen und banden die Provinzen an die Zentrale – auch in diesem Sinne war der französische Chaussee-Bau und die Gewölbebrücken vorbildlich.

Da sind wir dann in Zeiten, in denen die Begriffe „Statik“ und „Wagnis“ doch eher schon auseinandertreten. Kommen wir doch vielleicht noch mal zur Rialtobrücke zurück, bei deren Planung und Bau schon noch statisches Wagnis im Spiel war und eine andere Art von Empirie, oder?

Ja natürlich. Die weit fortgeschrittene Stadtrepublik Venedig hat sich Ende der 1580er-Jahre ein solches Bauwerk hinsetzen lassen und die Nürnberger haben es im Grunde genommen mit ihrer 1598 ausgeführten Fleischbrücke adaptiert – eine Art Technologietransfer, wenn Sie wollen. Im Besitz der Familie des damaligen Nürnbergers Stadtbaumeisters Wolf-Jakob Stromer befindet sich ein Modell der Rialtobrücke aus dieser Zeit, das man den Stadtoberen zeigen konnte. Die Empirie war im Grunde genommen vielleicht schon so etwas wie eine „zarte Empirie“ à la Goethe. Man tastete sich durch die hohe Handwerkskunst der Steinmetze und Zimmerleute schon sehr nah an die Theorie. Zwar waren die Bauleute noch nicht im Besitze der Theorie, aber der Vorhang war bereits so durchsichtig wie die spärliche Bedeckung mancher Frauengestalten auf den Gemälden von Lucas Cranach d. Ä. – im übertragenen Sinne erotisch. Das ist das, was ich mit „ingenieurmäßiger Handwerkskunst ohne viel Mathematik“ meine. Natürlich hatten Bauleute alles ganz genau beschrieben, auch quantitativ – Baustellenlogistik und Bauabrechnungen, das war alles schon wunderbar organisiert wie man das schon von den gotischen Bauhütten kannte. Auch der Betrieb der Brückenbaustelle in der Spätrenaissance war hochgradig entwickelt, dem eine Bauablaufplanung zugrunde lag.

… also was man heute Baumanagement nennt …

Bruchmechanismus für praxisübliche Gewölbedicken nach Baldi, 1621

Bruchmechanismus für praxisübliche Gewölbedicken nach Baldi, 1621 (Ernst & Sohn)

Ja, so könnte man es auch ausdrücken. Und im Zusammenhang mit dieser hochdifferenzierten Bauablaufplanung ergibt sich dann die Frage nach der Statik. Sie war integraler Bestandteil dieses arbeitsteiligen Baubetriebs, dieser Konzepte, dieser Erfahrungen, gerade auch während des Baubetriebs: „die Baustelle als Innovationspool“ wie Werner Lorenz sagen würde. Man nehme etwa die Gerüste, die im Kirchenbau aber natürlich auch im Brückenbau notwendig waren. Sie forderten die Bauleute schon in der Gotik heraus. Die steinernen Brücken des Mittelalters kamen noch relativ klobig daher, wie z. B. die 1146 fertiggestellte Regensburger steinerne Brücke über die Donau. Sie ist ja sozusagen romanisch, wenn man so will. Erst die Renaissance sollte radikal zum flachen Segmentbogen übergehen. In Florenz ist man dann noch eine Stufe weiter gegangen, mit kontinuierlich sich ändernden Gewölbestärken. Das ist ja perfekt, das ist hohe Handwerkskunst, die quasi schon kurz vor dem Überschreiten des Rubikons zur Theorie ist, aber ihn dann doch nicht überschreitet, weil die Mathematik und Mechanik noch nicht so weit entwickelt waren; das traf auch bei der Errichtung der Nürnberger Fleischbrücke 1597/98 zu. Kaum 100 Jahre später formulierte Newton die Grundgesetze der Mechanik und kurz darauf gab es dann die erste rohe Gewölbetheorie. Aber Antonio Becchi konnte 2002 nachweisen, dass Bernardino Baldi schon im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts – also noch vor Galileis Discorsi (1638)  – quantitative Vorstellung vom Tragverhalten einfacher Konstruktionen hatte. Man hatte also eine ausgeprägte Feinfühligkeit für die Tragqualität und war dabei, diese für sehr einfache Fälle zu quantifizieren.

Alles Formen „zarter Empirie“ …

Ja, ein überaus schönes Sprachbild von Goethe. Es gab natürlich schon vorher geometrische Regeln bei Alberti und in der römischen Kaiserzeit bei Vitruv auf die ich schon im ersten Gespräch verwiesen habe. Ein berühmtes Beispiel aus der Renaissance sind die Proportionsbetrachtungen zur Fassade des Mailänder Doms, mit dessen Bau Ende des 14. Jahrhunderts begonnen wurde; dort ging es aber in erster Linie um Festlegung von Maßverhältnissen aus ästhetischen Gründen und nicht um in Proportionsregeln gegossene statische Erfahrung ­– beides lässt sich aber nicht trennen. Wir dürfen davon ausgehen, dass sich eine statische Proportionslehre schon zu Beginn der Orientierungsphase der Baustatik (1575-1700) ausprägte, im 18. Jahrhundert systematisiert wurde und auch später in der Bemessungspraxis eine wichtige Rolle spielte.

Also in der Renaissance – ohne die entsprechende Mathematik – sozusagen empirische, mit welchen Attributen auch immer versehene, Arbeiten. Dann kommt die Mathematik dazu und dadurch wird die Statik – immer im Konnex mit der Ästhetik – feiner.

Zuerst ist sie mal gröber und fällt hinter die hochentwickelten Formen der Empirie, wie wir sie in der statischen Proportionslehre vorfinden, zurück.

Durch die Mathematik?

So ist es. Die ersten Versuche baustatischer Modellierung erreichen nicht den Stand der „zarten Empirie“.

In welcher Zeit sind wir da?

Im Jahrhundert der Aufklärung, d. h. zwischen 1700 bis 1800. Da gibt es Kontroversen um das Tragverhalten der Kuppeln der Peterskirche in Rom oder der 1790 vollendeten Kirche St.-Genviève in Paris (Panthéon), wo die Praktiker gegen die Theoretiker wetterten. Für die Kuppel des letztgenannten Bauwerks setzten Soufflot und Rondelet schon eine baustatische Gewölbetheorie ein, die aber leider zu grob war. Bei der Ausrüstung der Kuppel zeigten sich schwere Schäden, die allerdings der nachlässigen Bauausführung geschuldet waren. Das hinderte die Praktiker nicht daran, die auf  mechanischen Grundsätzen basierende Bemessung zu kritisieren, da sie der Meinung waren, dass eine Kuppel auch ohne Statik, ohne quantitative Statik im modernen Sinne errichtet werden kann.

Das heißt, die Mathematisierung gebar zunächst Verfallsformen, könnte man jetzt beinah sagen?

Peterskuppel

Baustatische Untersuchung der Peterskuppel, 1742 (Ernst & Sohn)

Die „zarte Empirie“ war noch Jahre nach der Wende zum 19. Jahrhundert der baustatischen Tragstrukturanalyse überlegen. Über die Peterskuppel bemerkte Poleni 1748: „Michelangelo kannte keine Mathematik und war trotzdem imstande, die Kuppel zu erbauen“. Wir befinden uns mitten im Streit der Theoretiker und Praktiker um die wirksamste Sanierungsstrategie der schadhaften Peterskuppel in den 1740-er Jahren, die ich in Kapitel 13 über Kontroversen in der Baustatik meines Buches beschrieben habe: Das Gutachten der drei Mathematiker Jacquier, Boscovich und Le Seur aus dem Jahr 1742 und der 1748 erfolgende große Gegenschlag von Poleni. Das Gutachten der drei Geistlichen der römischen Gelehrtenrepublik gilt gemeinhin als die erste Statik der Welt. Doch es gab schon im ausgehenden 17. Jahrhundert ein Hort der baustatischen Theoriebildung. So wirkten an der Académie Royale d’Architecture zu Paris Philippe de La Hire, Pierre Bullet und Pierre Couplet.

Könnten wir hier nicht kurz den Sprung in die Gegenwart wagen? Heute ist ja auch wieder an der Ästhetik ablesbar, dass da mathematisch etwas passiert. Wir haben ja eben Rechnerprogramme, die Dinge rechnen können, die kein Mensch mehr rechnen kann und dadurch Formen generieren, die vorher utopisch waren …

Tetraeder der Technikwissenschaften

Das Tetraeder der Technikwissenschaften (Ernst & Sohn)

Genau – willkürlich ohne Ordnungsprinzip, ohne Strukturprinzip. Aber es sollte ja um das Komponieren von Tragwerken gehen. Es ist ja gerade das eidetische Denken, was ein Ingenieur zu leisten hat. Es ist ja gerade die Verschränkung zwischen Erkennen, Gestalten und Verantworten, die die Ingenieurarbeit ausmachen sollte. Es ist eben nicht nur das Erkennen, es ist eben nicht nur das Gestalten, es ist eben nicht nur das Verantworten, sondern deren Zusammenwirken. Die Einheit aus diesen drei Tätigkeitsformen bildet die Basis der Ingenieurarbeit. Der Ingenieur muss sich heute zu recht immer mehr vor der Gesellschaft verantworten. Er ist ja selber Teil der Gesellschaft und hat zu reflektieren, dass er da z. B. nur an einem Investorenbau mitmacht, die 125. Shopping-Mall. Öffentliche Bauten sind da eher noch eine Chance, das alles zusammenzubringen.

Man kann heute ohne weiteres Dachformen generieren, die „irgendwie“ aussehen, die negativ und/oder positiv gekrümmt sind, die keinerlei mathematische Regelmäßigkeit aufweisen – das ist mathematischer Empirismus. Wir probieren es mal, wir machen da ein Architekturmodell und teilen dann in der weiteren Folge der Simulationsmodelle die Tragstruktur in finite Elemente ein – auch den letztgenannte Simulationsakt generieren wir über Computerprogramme: Das kann man heute natürlich alles machen. Es ist natürlich technisch hochgradig komplex, folgt aber in der Regel keinem Strukturprinzip. Der Architekt Kurt Siegel publizierte 1962 seine Monografie „Strukturformen moderner Architektur“. Ein Buch, durch das klar wurde, wie Architekten Tragwerke verstehen sollten. Architekten müssen solche Tragstrukturen ja nicht baustatisch analysieren können, aber verstehen müssen sie sie, den Formenkanon, die Sprache des Tragwerks begreifend, d. h. das Tragwerk zum Sprechen bringen: Dies ist die Aufgabe des Architekten und des Bauingenieurs. Wenn beide nicht im Entwurfsstadium zusammenarbeiten, dann hat das Tragwerk seine Sprache verloren. Architekten, die irgendwelche Strukturen entwerfen, ohne den Ingenieur vorher zu Rate zu ziehen, sollten der Vergangenheit angehören – ebenso Ingenieure, die nur das modellieren, was ihnen vorgesetzt wird. Das Schisma der Baukunst habe ich in Kapitel 14 meines Buches thematisiert. Dort finden sich auch Vorschläge wie Schönheit und Nutzen wieder zusammenkommen können.

Also Bubble-Architektur, oder sagen wir versöhnlicher, organische Architektur, wäre nicht die Ihre?

Der organischen Architektur stehe ich skeptisch gegenüber. Mit Jonas Geist halte ich sie im Grunde genommen für reaktionär. Gut, es gibt da sicherlich auch sehr positive Vertreter, aber im Grunde genommen muss von Strukturprinzipien ausgegangen werden. Nicht strenge, deduktive Entwurfsstrategien i. S. des Rationalismus, aber auch nicht nur induktive i. S. des Empirismus helfen weiter, sondern solche, wo beide in einer Art Fließgleichgewicht zueinander stehen. Nur so können poetische Tragwerke entstehen, die ansprechend zum Rezipienten sprechen und ihm Genuss, aber auch Nutzen ermöglichen. Ansprechende Baugestaltungen also, wo Konstruktion und Form, wo Anmut und Gesetz, wo Schönheit und Nutzen erfahrbar sind und nicht eine gedankenlose Übersetzung von Willkür und Anarchie in Bauwerke – geht es doch um strukturelles Denken, geistige Disziplin – nicht aber um geistige Disziplinierung. Damit ist nicht militärische Disziplin gemeint, sondern elastische intellektuelle Organisation, aber auch Selbstorganisation, wie wir sie in der Natur vorfinden.

Eine interessante philosophische Pointe bei einem zeitgenössischen Philosophen ist übrigens, dass die Dialektik letztlich nicht reiche, sondern dass am Höhepunkt des deutschen Idealismus‘, bei Ihrem Landsmann Hölderlin, der Mensch wieder Natur um Rat frage. Das würden Sie sagen, wäre das, was in diesen Prozessen stattfindet, dass da also das Tragwerk ja auch die Natur – im ästhetischen Rahmen – um Rat fragt?

Organprojektion nach Kapp

Organprojektion nach Kapp: Rechter menschlicher Oberschenkelknochen (links) mit zugehörigen Zug- und Druckspannungstrajektorien (Mitte) und Organprojektion in Gestalt eines Culmannschen Kranes (rechts) (Ernst & Sohn)

Ja, natürlich ist die Natur des Bauens immer auch ein Bauen mit der Natur und gegen sie. Als erstes wäre da die Baubionik zu nennen. Beispielsweise gibt es einen großen Sonderforschungsbereich an der Universität Stuttgart mit verschiedenen Fachbereichen, dessen Sprecher ein Tragwerksplaner ist, Jan Knippers. Und da geht es um natürliche Konstruktionen, die Form und Struktur eines Knochens eines Baums oder eines Schildkrötenpanzers, um hydraulische Strukturen von Lebewesen im Wasser usw. Solche natürliche Konstruktionen können aber nicht 1:1 auf Baukonstruktionen übertragen werden. Ein frühes Beispiel ist die Ableitung der optimalen Form eines Kranes aus dem menschlichen Oberschenkelknochen nach Ernst Kapp aus dem Jahre 1877. Das alles kann heute wesentlich besser am Rechner oder im Labor simuliert werden. Es muss ja auch das Material dazu da sein. Heute konstruiert man nicht nur, sondern heute kann man Material für bestimmte Zwecke konstruieren. Also nicht mehr im Sinne der alten Probierkunde. Wir sind in der Lage, Material mit gewünschten Eigenschaften zu konstruieren. So erschließt der moderne Leichtbau einen ganzen Kontinent technischer Möglichkeiten. Früher standen lediglich Naturbaustoffe zur Verfügung mit denen Konstruktionen für bestimmte Zwecke kreiert wurden. Mit dem Aufkommen von Eisen und Stahl änderte sich das grundlegend. Wie sich die erste technische Revolution im Bauwesen auf die Baustatik auswirkte finden Sie im Kapitel 8 meines Buches beschrieben.

Aber Sie würden schon zustimmen, dass, wie man damals, als die numerische Mathematik Einzug hielt, zunächst einen gewissen ästhetischen Rückschritt beobachten konnte, man mit dem Einzug der Software, etwa spätestens seit CAD, wieder ästhetisch ablesen kann, dass da etwas passiert ist, auch bei der Ästhetik von Tragwerken?

Cover des Buches von Lumpe und Gensichen

Cover des Buches von Günter Lumpe und Volker Gensichen (Ernst & Sohn)

Es gibt wirklich neue Möglichkeiten der modernen Geistestechnologie für die Ästhetik von Tragwerken, aber diese können auch in ihr Gegenteil umschlagen, wenn nur das Technologische im Vordergrund steht. So können damit Bubble-Architekturen kreiert werden, aber man kann fraglos auch völlig neue Formen von Tragwerken realisieren, bei allen Problemen, die das mit sich bringen kann. Ein solches Problemfeld haben die Professoren Günter Lumpe und Volker Gensichen bei der nichtlinearen Stabanalyse mit kommerzieller Statik-Software gefunden. Aufgrund der Abweichung der Ergebnisse schlossen sie auf Mängel in der Stabtheorie und legten ihre Analyse als Buch vor. Und es sagt sich so leicht hin: „nichtlinearer Stab“ – machen wir mal, das können wir wunderbar programmieren und das Programm durchlaufen lassen, aber die Abweichungen sind sehr groß. Gerade bei nichtlinearen Analysen muss der Ingenieur sehr sorgfältig vorgehen, ergeben dort doch kleine Ursachen oft große Wirkungen. So stellt sich die Gleichsetzung von Wahrheit und Richtigkeit eines Leibniz’ heute völlig neu: Ein philosophisches Grundlagenproblem der Technikwissenschaften im Allgemeinen und der Baustatik im Besonderen. Die Simulationsmodelle des Ingenieurs stellen also immer höhere Anforderungen, deren Latte vielleicht schon am nächsten Tag etwas höher gelegt wird. Noch im ausgehenden 20. Jahrhundert herrschte in der Baustatik der Abstieg vom Konkreten zum Abstrakten – die Tragstrukturanalyse – vor, d. h., die Modellierung vom Tragsystem des gesamten Bauwerks zum Tragwerk über die Tragstruktur zum statischen System. Doch die Tragstruktursynthese wird immer wichtiger: der Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten. Beide Richtungen integrieren sich auf digitaler Ebene in Gestalt von BIM bei dem ja das Gebäudemodell im Mittelpunkt steht. Geometrische Grundlage ist nicht mehr die gute alte Darstellende Geometrie eines Gaspard Monge (1746-1818) mit der die Räumlichkeit der Objekte des Bauens orthogonal zerlegt wird, sondern eine Art computerbasierte, empirische und nichteuklidische Baugeometrie wie sich etwa seit der Jahrtausendwende mit der Architectural Geometry herausgebildet hat.

Aber die eigentliche technische Revolution fing doch wohl schon mit dem Rechner an …

Pioniere der Finite-Element-Methode

Drei Pioniere der Finite-Element-Methode: J. Argyris, R. W. Clough und O. C. Zienkiewicz (v.l.), 1999 (Foto: Prof. Ekkehard Ramm)

Bevor der Rechner das Licht der Welt erblickte, entstand diese universelle „symbolische Maschine“ (Sybille Krämer) in unserem Kopf; dieser Entwicklungsprozess setzte mit der Algebra eines Vieta in der frühen Neuzeit ein. Für die Baustatik habe ich diese Geschichte des „operativen Symbolgebrauchs“ (Sybille Krämer) verfolgt. Ein Höhepunkt stellten die Arbeiten von Konrad Zuse und die Entstehung der Finite-Elemente-Methode dar, deren Genese ich in Kapitel 12 meines Buches beschrieben habe. Dabei habe ich mich in erster Linie auf die ingenieurmäßigen Wurzeln dieser Jahrhundertmethode konzentriert. Selbstverständlich gibt es noch andere Wurzeln, mathematische und physikalische, aber das Denken dieser Geistestechnologie in Modulen, das Denken in Systemen – Obersystem, Untersystem usw., das hierarchische Denken, all diese systemtheoretischen Artefakte gehen i. W. vom konstruktiven Ingenieur aus. Was Wunder, wenn die konstruktiven Ingenieure ­– Bau- und Maschinenbauingenieure – im Zuge der Aufrüstung nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien, den USA, der Sowjetunion und Frankreich die erste Generation der Flugzeugbauer bildeten.

Vielleicht wäre hier auch der Punkt, von Software und Verantwortung zu sprechen. Beispiel Olympia-Tower in London, dieser Stahlfachwerkturm … Dessen Statik kann doch kein Mensch mehr rechnen – da dürften selbst Plausibilitätsprüfungen schon schwierig werden, und so wird da die Verantwortung an die Software delegiert. Und das ist …

… gewissermaßen eine Vergesellschaftung, eine andere Stufe der Gesellschaft und damit auch der Verantwortung. Wer übernimmt die gesellschaftliche Verantwortung? Kann diese namhaft gemacht werden? Schon vor 100 Jahren konnten sie nicht mehr „beim Namen“ genannt werden. Denken Sie an das erste Dezennium des 20. Jahrhunderts als die Brücke über den St.-Lorenz-Strom bei Quebec während der Montage einstürzte oder an den Einsturz des großen Gasbehälters am Großen Grasbook in Hamburg. Da konnten nur noch juristische Personen genannt werden keine natürlichen. Es ging um die Bemessung gegliederter Stahlstützen. Das Versagen dieser Bauwerke induzierte ein großangelegtes Forschungsprogramm unter den Auspizien des Deutschen Eisenbau-Verbandes, der Wissenschaft und Fachverwaltungen, die später zu einer baustatischen Knicktheorie führen sollte. Dagegen hatte der Einsturz des Turmes des Deutschen Doms in Berlin 1781 die Entlassung Carl Gontards zur Folge. Aber wer übernimmt die Verantwortung für Software, die auf unzureichenden analytischen Fundamenten ruht und buchstäblich versagen muss, wie Gensichen und Lumpe schon bei einfachen Stabstrukturen mit nichtlinearem Verhalten zeigen konnten?

Der mittelalterliche Baumeister wurde ja unter Umständen geköpft, wenn ihm sein Kirchturm zerbröselte. Das war nun ein reines Prinzip Verantwortung. Und in der VR-China wandert der Ingenieur bei vergleichbaren Fällen bis heute noch minimal in den Knast …

Ersteres trifft eher nicht zu, obzwar nach dem 3800 Jahre alten Codex Hammurapi ein Baumeister mit dem Tode bestraft werden sollte, wenn der Bauherr beim Einsturz des Gebäudes zu Tode gekommen ist. In meinem Buch erzähle ich die Geschichte des Köthener Baumeisters Bandhauer, der auf Grund eines Gerüsteinsturzes bei dem 1830 sieben Arbeiter zu Tode kamen verhaftet, wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, später aber unter Auflagen entlassen wurde.

Na gut, aber das war noch das reguläre Prinzip Verantwortung. Ab wann ist das denn dann aufgeweicht worden?

Ich würde schon sagen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein gutes Beispiel für die Anonymisierung der Verantwortung ist der Einsturz der Eisenbahnbrücke über die Birs bei Mönchenstein (unweit von Basel) am 14. Juni 1891, der 73 Menschen in den Tod riss. Dieses Unglück zog eine Untersuchungskommission nach sich und führte zu den ersten Brückenvorschriften in der Schweiz. August Föppl regte dieses tragische Ereignis ein Jahr später zur Veröffentlichung seines Buches „Das Fachwerk im Raume“ an. In Deutschland befasste sich der emeritierte Stahlbauprofessor Joachim Scheer systematisch mit der Ingenieurverantwortung im Hinblick auf das Versagen von Bauwerken. In seinen Büchern, wie etwa „Failed Bridges“ (2010), forderte Scheer eine systematische Aufbereitung des Versagens von Bauwerken in der Geschichte für die Ingenieurpraxis und die Hochschullehre – auch eine Form des Lernens aus der Geschichte.

Herr Kurrer, haben Sie Dank für dieses Gespräch

Lesen Sie auch den ersten Teil des Gesprächs „Der wirklich geniale Ingenieur ist poetischer Denker“.

Das Buch

Kurrer, Karl-Eugen
Geschichte der Baustatik. Auf der Suche nach dem Gleichgewicht
2., stark erweiterte Auflage

Cover-Kurrer-2015

Geschichte der Baustatik (Ernst & Sohn)

Wann setzte das statische Rechnen im Entwurfsprozess ein? Beginnend mit den Festigkeitsbetrachtungen von Leonardo und Galilei wird die Herausbildung baustatischer Verfahren vorgestellt. Neu in der 2. Auflage: Erddrucktheorie, Schalentheorie, FEM, historische Lehrbuchanalyse.

Lesen Sie hier einige Rezensionen.

 

Leserkommentare

  1. Cengiz Dicleli | 27. Mai 2016

    Angesichts der immensen Fülle und Qualität, was Karl-Eugen Kurrer uns als Buch und auch im Gespräch vorlegt, geht man ja zunächst in die Knie. Daher vermag ich mich lediglich zu einigen wenigen Punkten, die mir persönlich schon immer wichtig waren und weiterhin wichtig sind, äußern.
    Da ist einmal die wichtige Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur. Nicht ganz wort-wörtlich wiedergegeben sagt Kurrer dazu: „Die Aufgabe des Architekten und des Bauingenieurs ist das Tragwerk zum Sprechen zu bringen. Wenn beide nicht schon im Entwurfsstadium zusammenarbeiten, dann hat das Tragwerk seine Sprache verloren.“ Ich kenne viele Festtagsreden zu diesem Thema. So schön und poetisch ausgedrückt habe ich von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit noch nie gehört oder gelesen.
    Ohne weitere Ausführungen teile ich seine Skepsis gegenüber der sogenannten organischen Architektur.
    Am Anfang des zweiten Teils fragt Momentum: „Herr Kurrer, Sie vertreten die These, der Bauingenieur sei nicht nur aus der Spaltung des alten Baumeisters und Architekten hervorgegangen?“ Ich möchte gerne behaupten, dass die allgemein verbreitete These von der „unglückseligen“ Spaltung noch sehr genau durchleuchtet werden muss. Ich meine, dass man hier von keiner Spaltung sprechen kann. Sondern der Beruf des Bauingenieurs ist einfach ganz neu dazugekommen. Wie auch Kurrer sehr treffend ausführt, waren es die völlig neuen Aufgaben, wie Straßen- und Kanalbau u.dgl., wofür in der École des Ponts et Chaussées neue Fachleute ausgebildet wurden. Die wichtigste Errungenschaft des Bauingenieurs besteht jedoch darin, dass er befähigt ist, über die Standsicherheit eines Bauwerks noch vor Beginn der Bauarbeiten eine qualifizierte Aussage zu machen. Von Architekten und Baumeistern konnte dies bis zur Etablierung der Baustatik und des Bauingenieurs in keiner Etappe der Baugeschichte geleistet werden. Vielmehr gehörte der Einsturz von Baukonstruktionen zum Alltag. Bauten der Antike, der Gotik und der Renaissance, die wir heute mit Recht bewundern, stellen lediglich eine positive Auslese dar. Beispielsweise lag den Proportionsregeln von Vitruv oder von Alberti wohl die Annahme zugrunde, dass zum Nachweis der Tragfähigkeit eines Bauwerks ausreichend ist, wenn die Maße seiner einzelnen Teile die gleichen Maßerhältnisse untereinander aufweisen, wie diejenigen bei einem bereits bestehenden ähnlichen Bauwerk.

  2. Zbigniew Cywiński | 4. Juni 2016

    The appearance of this magnificent book has, surely, a great value not only for the civil engineering specialists – those working in the theory and practice as already advanced professionals, but also for many doing their first steps on that road, i.e. – students of that profession. The book is important also for the present and future architects, since – presenting the development of constructions – it exceeds the pure c.e. limits. Even more – touching a large amount of human aspects of technology, the book widely enters into the sphere of the mankind culture. “On the search od equilibrium”, the overall techno-human perception of that book is definitely stressed by the broad biographical record of renown masters of that subject in world scale. Thus, certainly, the book is worth to enrich the personal and corporate libraries in field.

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Datum 25. Mai 2016
Autor Burkhard Talebitari
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