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Hochfeste Feinkornbaustähle im Kranbau
Mit dem Kranbau bildete sich von 1890-1920 im Schnittpunkt von Maschinenbau, Elektrotechnik und Stahlbau ein technisches Sondergebiet heraus, das mit den elektrisch betriebenen Laufkränen dazu beitrug, der industriellen Fertigung eine linear-organisatorische Gestalt aufzuprägen. Vor 100 Jahren trat der Turmdrehkran auf den Baustellen seinen Siegeszug an und vor gut 50 Jahren setzte die atemberaubende Entwicklung im Mobilkranbau ein. Von diesen drei Basisinnovationen im Kranbau ist es die Letztgenannte, die seit mehr als drei Dezennien die Dialektik von Werkstoffentwicklung und Konstruktion immer wieder auf höherer Stufenleiter neu setzt und dadurch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt befeuert.
Das Praktikergespräch Kranbau
Der Zielkonflikt der Ingenieure, mit immer leichteren Krantragwerken, immer schwerere Lasten heben zu müssen, ließ sich nicht mehr alleine dadurch beheben, dass neuartige Tragwerksformen angewandt und optimiert wurden, sondern höherfeste Stähle eingesetzt werden mussten: Insbesondere im Mobilkranbau zeigte sich schon in den 1960er Jahren, dass der Feld-Wald-und-Wiesen-Baustahl St 37 mit einer Mindestzugfestigkeit von 370 MPa (N/mm²) und einer Mindeststreckgrenze von 240 MPa – aber auch der höherfeste St 52 – den Anforderungen an Festigkeit und Zähigkeit nicht mehr gewachsen war. So entwickelten die Werkstoffingenieure der bundesdeutschen Stahlindustrie hochfeste Feinkornbaustähle mit Streckgrenzen über 550 MPa. Bei solchen Stählen handelt es sich um niedriglegierte Stähle mit einem C-Gehalt von unter 0,2 %; je nach geforderter Mindeststreckgrenze und Blechdicke enthalten sie Zusätze von Cr, Mo, Ni und V sowie ggf. eine Mikrolegierung. Damit setzte die positive Rückkopplung zwischen den statisch-konstruktiven Bedürfnissen des Kranbaus nach hochfesten Stählen und deren Entwicklung ein, die in der Gründung des Praktikergesprächs Kranbau am 30.11.1993 ihren institutionellen Ausdruck fand. In diesem Forum diskutieren Ingenieure aus praxisorientierten Abteilungen wie Statik/Konstruktion, schweißtechnische Betreuung und Produktion mit Vertretern von Forschungsstellen über aktuelle Problemstellungen im Kranbau, um dann Forschungsprojekte unter den Auspizien der Forschungsvereinigung Stahlanwendung e.V. (FOSTA) abzusprechen. Die von Professor Dr.-Ing. Thomas Ummenhofer und Dr.-Ing. Stefan Herion editierte April-Ausgabe (Bild 1) der Zeitschrift STAHLBAU ist dem Themenfeld „Hochfeste Stähle im Kran- und Anlagenbau“ gewidmet und enthält Aufsätze über den aktuellen Stand der vom Praktikergespräch Kranbau betreuten Forschungsprojekte.
Das Titelbild von STAHLBAU zeigt Gittermast-Raupenkrane im Einsatz auf einer Brückenbaustelle in China. Der Gittermastkran mit Raupenfahrwerk hat die Typenbezeichnung CC 8800 und besitzt eine maximale Tragfähigkeit von 1600 t. Er ist der leistungsstärkste in Serie gefertigte Raupenkran und besteht aus einer verformungssteifen Gitter-Rohrkonstruktion, die aus hochfestem Feinkornbaustahl S960QL verschweißt wurde. Im Baustellenfoto ist nur die Grundkonfiguration des CC 8800 mit Hauptausleger zu sehen – Superliftkonfigurationen mit einer schwindelnden Rollenhöhe von 234 m und paarweiser Anordnung wie bei dem CC 8800-1 TWIN (max. Tragfähigkeit 3200 t) sind selbstverständlich möglich.
Mobilkranbau
In Bild 2 ist ein Teleskopausleger unter Last dargestellt. Er besteht aus einem Anlenkstück und bis zu sieben Teleskopschüssen. Die Auslenkung an der Kranspitze bewegt sich im Meterbereich, einer Größenordnung, die den Laien schaudern lässt, für den Mobilkranbauer aber heute selbstverständlich sind: Ultrahochfeste Feinkornbaustähle sowie durch moderne numerische Ingenieurmethoden und Ermüdungsversuche abgesicherte konstruktive Innovationen ermöglichen heute bei einem vollständig ausgefahrenen Teleskopausleger Gesamtlängen bis zu 100 m.
Bei Teleskopauslegern von Mobilkranen liegt die positive Rückkopplung zwischen Werkstoffentwicklung und konstruktiver Durchbildung auf der Hand. Teleskopausleger der ersten Generation besaßen einen Kastenquerschnitt (Bild 3, Querschnitt 1), der beispielsweise aus S460QL gefertigt wurde. Solche Stähle mit der Mindeststreckgrenze 460 MPa und niedrigen zulässigen Spannungen führten zu großen Blechdicken, so dass Stabilitätsprobleme wie das Plattenbeulen von Blechfeldern zweitrangig waren. Schon in den 1970er Jahren setzten die Ingenieure den Stahlwerkstoff S690QL ein (Bild 3, Querschnitte 2 u. 3); bei gleicher Belastung führte dies zu geringeren Wanddicken – damit rückten aber Plattenbeulen immer mehr in den Vordergrund. Diesen Problemen suchten die Konstrukteure durch immer mehr Kantungen des Profils im Druckgurt zu begegnen (Bild 3, Querschnitte 4 u. 5). Aber die Stahlindustrie vollzog schon um 1980 mit dem Feinkornbaustahl S960QL einen Riesenschritt, der kurz darauf im Mobilkranbau zum Einsatz kam. Dies führte in den 1990er Jahren schließlich zu Querschnitten mit schalenförmigem Druckgurt (Bild 3, Querschnitte 7 u. 8).
Die strukturmechanische Analyse derartiger Tragwerksformen ist nur mit Hilfe komplexer Finite-Element-Programmsysteme möglich, mit denen u.a. die nichtlinearen Zusammenhänge zwischen Belastung und Verformung zuverlässig erfasst werden konnten. Heute wird für Teleskopausleger schon der ultrahochfeste Feinkornbaustahl S1100QL eingesetzt. Aber damit nicht genug: Nach Ummenhofer et al. können durch „Vermeiden von Schweißnähten in den höchstbeanspruchten Bauteilbereichen bei einer geringen Anzahl von Lastwechseln (…) derzeit im Kranbau (…) und Anlagenbau Stähle mit einer Streckgrenze bis zu 1300 MPa erfolgreich für ermüdungsrelevante Bauteile eingesetzt werden“ (STAHLBAU 4-2013, S. 239).
Eine Erfolgsgeschichte mit Zukunft
Am 15./16.5.2013 wird die FOSTA in Zweibrücken das 10. Stahl-Symposium „Hochfester Stahl im Stahl- und Maschinenbau“ veranstalten . Dort werden Resultate des vom Praktikergespräch und der FOSTA geförderten und kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojektes „Bemessung von ermüdungsbeanspruchten Bauteilen aus hoch- und ultrahochfesten Feinkornbaustählen im Kran- und Anlagenbau“ vorgestellt. Die Ingenieure aus Entwicklung, Konstruktion und Fertigung werden in Zweibrücken mit Wissenschaftlern aus Karlsruhe, Aachen, München, Darmstadt, Stuttgart, Berlin und Essen sowie Beratenden Ingenieuren über laufende Forschungsprojekte und offene Fragen diskutieren. „Physik entsteht im Gespräch“, sagte Werner Heisenberg. Dass auch die Stahlbauwissenschaft im Gespräch entsteht, beweist das Praktikergespräch Kranbau. So könnte es ein Modell für eine industrieförmige Technikwissenschaft bilden, in der Produktions- und Konstrukteurswissen die Basis für die Verschränkung von Erkennen und Gestalten bildet.
Literatur:
Ummenhofer, Th., Herion, St.: Hochfeste Stähle im Kran- und Anlagenbau. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 231-232.
Bucak, Ö., Grotmann, D., Gundel, W., Heise, F.-J.: 20 Jahre technisch-wissenschaftlicher Erfahrungsaustausch im Praktikergespräch: Ein geschichtlicher Rückblick. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 233-235.
Ummenhofer, Th., Spannaus, M., Steidl, G., Hölbling, W., Di Rosa, V.: Die Anwendung hochfester Feinkormbaustähle im konstruktiven Ingenieurbau. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 236-245.
Hamme, U., Henkel, O.: Neue Konzepte im Leichbau – Innovativer Teleskopausleger eines Mobilkrans. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 246-249.
Feldmann, M., Eichler, B., Schaffrath, S., Stötzel, J.: Ermüdungsfestigkeitsnachweis für den Kranbau nach verschiedenen Regelwerken. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 250-263.
Eiwan, Ch., Fischl, A., Bucak, Ö., Seeßelberg, Ch.: Beanspruchungskollektive von Turmdrehkranen. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 264-269.
Ummenhofer, Th., Herion, St., Hrabowski, J.: Ermüdungsverhalten kranspezifischer Kerbdetails – Untersuchungen im Kurzzeitfestigkeitsbereich. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 270-281.
Neher, M., Telljohann, G., Grave, M.: Erhöhung der Lebensdauer geschweißter Bauteile durch Einsatz höherfrequenter Hämmerverfahren. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 282-288.
Feldmann, M., Eichler, B., Boos, B., Henkel, J., Mack, B.: Modellierungsvarianten und Empfehlungen bei der Ermittlung von Struktur- und Kerbspannungen auf Basis Finiter Element-Berechnungen. Stahlbau 82 (2013), Heft 4, S. 289-301.
Kurrer, Karl-Eugen: The History of the Theory of Structures. From Arch Analysis to Computational Mechanics: Berlin: Ernst & Sohn 2008, S. 411-433.
Autor dieses Beitrages:
Dr.-Ing. Karl-Eugen Kurrer, Wilhelm Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Rotherstr. 21, 10245 Berlin
Chefredakteur „Stahlbau“, Editor-in-chief „Steel Construction – Design and Research“