Rezension
Kubus als Irrweg

Daniel López-Pérez, R. Buckminster Fuller – Pattern-Thinking, Zürich 2020, ISBN 978-3-03778-609-3 (Lars Müller Publishers)
Augenfälliger geht es kaum: Das Cover von „Pattern Thinking“, das Richard Buckminster Fullers Denken feiert, ist mit einem Netz aus sich zu Oktaedern fügenden Dreiecken aus einem Entwurf Fullers überzogen.
Ein Netz ist seit alters her zum Fangen da. Im Netz wird heute alles gefangen, was an Wissen digital darstellbar ist – und nicht mehr. Es gibt – digital natives sei’s geklagt – auch heute noch Wissen außerhalb des Netzes. Dass wir Gefangene des Netzes sein könnten, ist eventuell schon ein anderes Thema. Wäre es aber eine Überlegung wert, das Zutreffende des Begriffs „Netz“ dahingehend zu überprüfen, ob „Muster“ womöglich nicht ein treffenderes Wort wäre? Immerhin kann von einem Muster man nicht gefangen werden. Selbstredend haben wir schließlich, was Suchmaschinen ausspucken, zu mustern und es könnte sein, dass wir damit schon mitten im Denken Richard Buckminster Fullers (12.7. 1895 – 1.7.1983) wären, dem sich Daniel López-Pérez Buch unter dem Titel „Pattern-Thinking“ annimmt und vom – Buckys Werk eng verbundenen und es vorbildlich pflegenden – Verlag Lars Müller Publishers anlässlich seines 125. Geburtstages herausgebracht wurde.
Maß, Zahl und Gewicht
Fullers Denken ist eines, das freilich vor Entstehung des Netzes sich ereignete und das macht auch schon die bestürzende Aktualität des Buches aus. Könnte sie doch darin bestehen, dass, was Richard Buckminster Fuller umtrieb, eine entscheidend wichtige Station auf dem Weg ins Zeitalter jener Digitalisierung darstellt, die es so eventuell nie gab oder immer schon gegeben hat, jedenfalls auch ihren Ausgangspunkt nicht erst bei Weisheit 11,20 b im ersten vorchristlichen Jahrhundert nahm: „Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“
Muss man den von seinen Verehrern zumeist „Bucky“ genannten, amerikanischen Architekten, Designer, Wissenschaftler, Forscher, Entwickler und Schriftsteller noch gesondert vorstellen? Vielleicht den jüngeren unter den Lesern schon, trotz Netzalgorithmen, die vielleicht (noch?) nicht auf Fuller verweisen, wenn sie ihren Leonardo anklicken.
Buckminster Fuller, der sich selbst als “comprehensive, anticipatory design scientist” verstand, als quasi Mischung aus Künstler, Erfinder, Mechaniker, Ökonom und evolutionärem Strategen, wird ja zuweilen gern der Leonardo des 20. Jhs. genannt. Heute zu Worthülsen verkommene Begriffe und Wendungen wie „Synergie“ oder „Think global – act local“ sind von ihm stark beeinflusst oder – wie im letzteren Fall – geprägt. „Don’t fight forces – use them“ ist auch ein geflügeltes Wort von ihm, das es freilich zu weniger Popularität brachte.

Wo nicht bloß „beigebracht“ wurde: Bucky im Kreis seiner Studenten am Black Mountain College (Lars Müller Publishers)
Durch die von Fuller 1948 u. a. mit Studenten an Black Mountain College gebauten Domes, die auch geodätische, oder einfach Fuller-Kuppeln genannt werden, erregte seine Arbeit Aufmerksamkeit. Als bekannteste gilt die Biosphère, der Ausstellungspavillon der USA bei der Expo 67 in Montreal. Gemäß seinem Credo Minimalprinzipien in den Bereichen der Technik fortzuentwickeln, basieren diese Domes auf einer Weiterentwicklung von einfachsten geometrischen Grundkörpern (Tetraeder als 3-Simplex, Oktaeder und dichteste Kugelpackungen) und sind extrem stabil sowie mit geringstem Materialaufwand realisierbar – ein 1954 patentiertes Konstruktionsprinzip.
Dynamische maximale Spannung
Fehlen darf bei der Würdigung seines Werkes auch das Dymaxion House nicht, dessen Konzept López-Pérez umfänglich behandelt. Dymaxion wird gemeinhin als Abkürzung von „dynamic maximum tension“ (englisch für: dynamische maximale Spannung) übersetzt. Fuller verwendete das Wortkonstrukt für seinen ersten Haustyp, für den Entwurf eines Autoprototyps und für eine Weltkarte, wobei das Buch nur auf letztere ausführlich eingeht.
Vermerkt sei hier nur noch, dass das deutlich UFO-artige, später als 4-D-House bezeichnete Dymaxion House ums Haar heutigen Modulbau noch altbacken wirken lässt. Auch schuf es – schon in den 20ern des letzten Jahrhunderts! – die Möglichkeiten für das neonomadische Leben manch Heutiger. Ließ es sich doch demontieren, verpacken und mitnehmen. Freilich brachte es die Konstruktion nur auf zwei Prototypen, da Fuller keine Geldgeber für sie fand und man dem Dymaxion House nachsagte, es sei undicht und kalt.
Raum der Übersetzung
Pattern-Thinking widmet sich dem Denken dieses Genius auf kongeniale, wenn auch etwas arg akademische Weise, indem es für Fullers Denken in Mustern auf den Raum der Übersetzung rekurriert. Design, so López-Pérez’ erster Satz, wenn verstanden als Mittel, Architektur als eine Praxis zu begreifen, die sich mit der materiellen Welt beschäftigt, oder als ein mentales Konstrukt, das auf abstrakten Prinzipien beruht, gedeihe im Raum der Übersetzung. (In dem sich der Leser übrigens auch grade befindet …) Zufällige Linien in einer Zeichnung können, so der Autor, neue und noch nie dagewesene räumliche Muster offenbaren. Im Gegenzug können Muster zu Ausgangsmaterial werden, aus dem neue physikalische Modelle ableitbar sind. (S. 7) Unübersehbar, dass es von hieraus nicht mehr allzu weit zur Logik des („lernenden“) Algorithmus ist. Gleich in der ersten Fußnote des an solchen reichen Buches weist der Autor auf den bekannten – für Ingenieure nicht minder wichtigen – Umstand hin, dass bis zum Beginn des 20. Jhs. Architekten aller Länder (mit der bedingten Ausnahme Frankreichs) den Beruf durch praktische Arbeit als Schüler oder Lehrlinge erlernten. Der Effekt der Verlagerung der Architekten-Ausbildung in die Akademien war, dass das von Architekten zu lernende folglich aufhörte, praktischer Natur zu sein und zu „Prinzipien“ wurde. „Mit anderen Worten, eine komplett dematerialisierte und (in wörtlicher Übertragung) zerebrale Vorstellung von Kunst; und was Studenten als Ergebnis ihrer Ausbildung produzierten, war nicht „Architektur“, sondern es waren Zeichnungen, üblicherweise „Designs“ genannt.“ (S. 7) Man kann zum Verständnis von Fullers Werk auch diese Fußnote kaum genau genug lesen, illustriert sie doch neben dem Elend, dem „Bucky“ mit seinem Lebenswerk Abhilfe zu verschaffen suchte, auch das Problematische an dem zu akademisch geratenen Buch. Zum ersten Mal jedenfalls sei damals die Trennung aufgetreten, zwischen Architektur als mentalem Produkt – wie sie seit ca. den 20ern unterrichtet wurde – und Architektur als eine mit der materiellen Welt verbundenen Praxis. (López-Pérez zitiert hier Adrian Forty, Design, N.Y. 2000, 137 – 138)
Dieser Trennung trachtet Fullers Werk eindeutig mehr als López-Pérez’ Buch zu begegnen. Das Buch ist durch vier schlicht überschriebene Kapitel aufgebaut: „Linien“, „Modelle“, „Wörter“ sowie „Patente“.

1954 patentiertes Konstruktionsprinzip: Die Domes – auch Fuller-Kuppeln – aus einfachsten geometrischen Grundkörpern entwickelt (Tetraeder als 3-Simplex, Oktaeder und dichteste Kugelpackungen), sind extrem stabil sowie mit geringstem Materialaufwand realisierbar. (Lars Müller Publishers)
Muster der konkreten Welt
Das Kapitel „Linien“ hebt mit Fullers 1950 zusammengestellten Manuskript „Project Noah’s Ark #2“ an. Dessen Raum zwischen Text und Zeichnungen, Schaubildern und ausklappbaren Blaupausen versprach ein „discovering new man advantage“, eine „wirtschaftliche und soziale Arche Noah“. Als ein „Noah unserer Tage“ so der Autor „sammelte Fuller unterschiedlichste Dokumente und Anweisungen, darin die Heilung für eine Katastrophe suchend, die nur er sehen konnte.“ (S. 36) Fuller habe da mit der Erhaltung von Wissen für kommende Generationen begonnen. Via reine und angewandte Mathematik übersetzend, zielte diese „Studie reiner Muster“ darauf ab, durch das Studium derselben neue zu finden, „die die konkrete Welt, in der wir leben ausmachen.“ Die Notwenigkeit dazu habe Fuller gleich einer Prophetie schon am Ende der ersten Seite dieses Manuskripts hoch poetisch mit den Versen Edna St. Vincent Millays kommentiert: „What calm composure will defend / Your rock, when tides you’ve never seen / Assault the sands of What-has-been / And from your island’s tallest tree / You watch advance What-is-to-be? / (The tidal wave devours the shore: / There are no islands any more). Deutsch in etwa: Welche ruhige Gelassenheit wird ihren Fels verteidigen, wenn die Fluten kommen, die sie noch nie sahen / sie den Sand des Was-ist-gewesen stürmen / und vom höchsten Baum ihrer Insel aus / zuschauen, wie das Was-wird-sein voranschreitet. / (Die Flutwelle verschlingt das Ufer: / Es gibt keine Inseln mehr (Dt. vom Verfasser dieser Zeilen))
Es braucht wenig Phantasie, diese Verse als Prophezeiung der nicht nur Klimawandel-bedingten Tsunamis unserer Tage zu lesen, man könnte sich auch fragen, warum, wo es also keine Inseln mehr gebe, in der derzeitigen Entwicklung der Digitalisierung noch immer zuvörderst Insel-Lösungen favorisiert werden; man kann die Strophe aber auch ganz anders dahingehend deuten, dass – sehr schlicht gesagt – alles mit allem zusammenhänge und diese – eventuell spätestens seit den Vorsokratikern nicht mehr ganz neue – Sichtweise ein Denken befeuert, dass bei Fuller u. a. und zum wenigsten den keine Inseln kennenden Synergien-Begriff entstehen ließ.
Aber darüber hinaus spürt dieses erste Kapitel mehr als einer Dekade mathematischer Untersuchungen nach, die Fuller zusammen mit seinen Studenten unternahm, sowie ihrer zeitgenössischen Analyse und digitalen Rekonstruktion (S. 37). Erstere, vom Autor artig akademisch mit seinen Studenten an der University of San Diego durchgeführt, gipfelt in dem Spherical Atlas-Projekt, das unter www.sphericalatlas.com zu finden ist. (S. 52). Entscheidend aber scheint zu sein, wie hier durch eine genaue Lektüre von Fullers Schriften dieser von ca. 1944 – 55 stattfindenden Periode Fullers Entwicklung eines erweiterten Begriffs von „Muster“ erhellt wird und auch die Lesbarmachung der mathematischen Ordnung hinter der Komplexität seiner geodätischen Formen, die er als Erkundungen in die natürliche Form sieht. Die vom Autor erkannte Wende von der kartographischen zur geometrischen Forschung und die Etablierung der Ordnung für eine geodätische Revolution dürfte u. a. als maßgeblicher Teil einer Initialzündung für die heutige digitale Entwicklung geodätischer Messtechniken zu betrachten sein.
Nichts als Struktur in der Natur
Im letzten, mit „Mustererkennung: Naturalismus und Organismus“ überschriebenen Teil des 1. (Linien-)Kapitels zitiert der Autor Fullers Wort „There is nothing in Nature but Structure“, das sich im, von manchem als seltsamstes Buch der Philosophiegeschichte titulierten, zusammen mit E.J. Applewhite verfassten Synergetics Dictionary findet. (S. 56)
Statt hier die weiteren Kapitel des liebevoll gestalteten, als Geburtstagsgruß aber etwas zu publikationslistenhaft akademischen Buches über eines der letzten Universalgenies und wissenschaftlichen Großmystiker zu entdecken, möchte der Verfasser hier auf ein Interview mit Fullers Co-Autor eingehen, um der Bedeutung des Pattern-Thinkings Fullers ein wenig gerechter zu werden, als es dem Buch eventuell ob seines akademischen Anspruchs letztlich gelingt.
Laut dem Trimtab-Magazin auf der Homepage des Buckminster Fuller Instituts hat E.J. Applewhite Jr. Mit dem Synergetics Dictionary eines der eigentümlichsten Werke der Philosophiegeschichte zusammengestellt – eine vierbändige, fotokopierte Sammlung von 22.000 Karten, die während ihrer Arbeit an Synergetics verwendet worden sei. Auf den Karten habe Applewhite Buckminster Fullers Gedanken zu Hunderten von Themen aus Briefen, Büchern, Tonbändern, veröffentlichten und unveröffentlichten Papieren abstrahiert und so Bucky zu all diesen Themen “selbst vorgestellt”. Auch den Fuller-Gelehrten habe er damit eine kommentierte Quelle geschaffen, die ihresgleichen suche.
Gleich eingangs weist dieser auf Fullers Denkprozess als eine Angelegenheit hin, bei der nicht irgendetwas in das Gehirn hineingesteckt oder herausgenommen werde; vielmehr begreife er das Denken als die Verwerfung von Irrelevantem, als die Definition von Beziehungen – Beziehungen, die zwangsläufig geometrisch seien, und ebenso zwangsläufig tetraedisch. Es sei Fullers ursprüngliche Überzeugung, dass Gedanken eine Form haben müssen. Für Applewhite ist es die Essenz von Fullers synergetischer Geometrie, ein einziges Modell voranzutreiben, um die Form des physikalischen Universums, die Form des Verhaltens der Energie, sowie die Form des metaphysischen Universums, die die Form unseres Denkens ist, zu beschreiben.
Der springende Punkt
Hier ist es nebenbei müßig fast, den Zusammenhang zum etwa von der BIM-Methode eingeforderten Arbeiten an einem Modell aller am Projekt beteiligten gesondert hervorzuheben. Aber Fullers Denken führt selbstverständlich viel weiter und vermag nicht mehr und nicht weniger als unser gesamtes Weltbild auf den Kopf (oder die Füße?) zu stellen. Das jedenfalls legt Applewhite nah, wenn er auf Fuller sein ganzes Leben lang gehegten Vorschlag zu einem Buch verweist, das alle physischen und metaphysischen Erfahrungen in Begriffen des Tetraeders beschreibt.
Hätte Fullers Denken einen springenden Punkt, so wäre dieser hier auszumachen. Setzt es doch das Tetraeder gegen die gesamte zivilisatorische Geschichte des Denkens in Kuben. Der Würfel, konzediert Applewhite, habe sich in 2.000 Jahren westlicher Zivilisation in seiner Funktion für geometrische und volumetrische Messungen als sehr nützlich erwiesen. Konventionell dreidimensionale Messung seien Teil unseres unbewussten kulturellen Erbes, und wir neigten dazu, die Realität mit dieser inhärenten kubischen Art der Beschreibung aller physikalischen Welt zu identifizieren. Zentimeter, Gramm und Sekunden (das CGS-System) würden in linearen, quadratischen oder kubischen Modulen abgerechnet, und die Regeln funktionierten alle mit ausreichend exquisiter Genauigkeit, um Menschen zum Mond und zurück fliegen zu lassen.
Bei allem Respekt vor den Errungenschaften der XYZ-Koordinaten, hätten, so Fullers Überzeugung, die antiken griechischen Mathematiker die Welt der Natur mit dem Würfel und dem Quadrat durch die falsche Tür betreten, indem sie die eleganteren Dreiecke und Tetraeder (als einzige konvexe Polyeder mit vier Flächen), die so leicht verfügbar waren und so wenig beachtet wurden, verschmähten.
Fuller sieht die XYZ-CGS-metrischen Koordinaten als ein zufälliges Ergebnis der menschlichen Wahl falscher Rechenwerkzeuge, die irreduzible Brüche und irrationale Zahlen wie Pi hervorbrachten. Durch den Siegeszug des Rechners seien nun irrationale Faktoren viel einfacher zu handhaben, doch verdecke der Rechner eben dadurch die Erkenntnis, dass das XYZ-System eine Verirrung des Menschen sei und nicht ein Abbild jener ökonomischsten Koordination der Natur, die in Dreiecken und Tetraedern und nicht in Quadraten oder Würfeln beständen.

Verstehen ist tetrahedronal – Ordnung unterliegt Zufälligkeit – Zeichnungen von RBF (Lars Müller Publishers)
Kein System
Muster sind kein System – Wie springend der Punkt der Ersetzung des Tetraeders durch den Würfel in Fullers philosophischen und mathematischen Gedankengängen auch sein mag, habe er, betont Applewhite – eventuell gar nicht bedauernd – das gesamte Schema seiner Argumentation nie formell für die akademische und öffentliche Überprüfung veröffentlicht. Philosophie ist eben auch kein System, oder sie verkommt zur gleichnamigen Theorie bei Luhmann. Hinweise, Anspielungen, Tretminen für gewohnte, kubische Gedankengänge sind über sein Werk verstreut, aber keine stringente Darstellung dazu, nicht weniger als das Koordinatensystem der Natur entdeckt zu haben. Dass seine Dreiecks- und Großkreistaktiken etwa zum Einbau in seinen geodätischen Kuppeln kamen, zeige, wie seine Philosophie nie den Versuch unternommen habe, die Kuppeln zu begründen, sondern die Kuppeln den, seine Philosophie zu erklären.
Während etwa die oben erwähnte BIM-Methode sich als durchgängiges 3 D bis heute fortschrittlich vorkommen darf, war für Fuller die vierte Dimension Realität. Sie sei bei ihm nicht mehr in die unsichtbaren Manipulationen der abstrakten Mathematik verbannt; die vierte Dimension werde in seiner topologischen Buchhaltung sichtbar. Mit Fuller sei die Geometrie polemisch geworden. Mittels seiner neuen Modelle ließen sich die Formen und energetischen Verhaltensweisen des Universums ohne Pi, Brüche oder irrationale Konstanten beobachten und messen. Und dies konträr zu allen Lehrbüchern und Konventionen der westlichen wissenschaftlichen Lehre. Applewhite erwägt hier, ob eine „gleichzeitig so naive und arrogante Behauptung“, der gegenüber alle anderen falsch liegen, nicht an die klassischen Symptome der Paranoia erinnere. Die Frage, ob Fullers Denkmodell doch rational sein könne, hätte dieser wohl mit einem fast kantianischen „selbsverschuldet omnirational“ beantwortet.
Spätestens hier erweist sich der Umstand, dass die Library of Congress Fuller/Applewhites Buch ohne Genre „Synergetics“ unter „Systemtheorie“ verschlagwortet, als fragwürdig bis arg, verstand Fuller sich doch als Dichter, wenn auch in einem sehr weiten Sinne. Für ihn besteht der Stoff der Poesie aus Mustern des menschlichen Verhaltens und der Umwelt und aus den interagierenden Hierarchien von Physik und Design sowie Industrie. Einstein und Henry Ford gelten für Fuller als die größten Dichter des 20. Jahrhunderts. Sein pattern-thinking leuchtet hier als dichterisches Denken auf und ein. Apllewhite nennt die gesamte Struktur von Fullers Kosmos eine poetische, von großer Harmonie und Subtilität. Er erkennt in ihm „eine seltene und wunderbare Vision einer Geometrie der Begrifflichkeit: wie man von einem neuen Ort ausgehen kann – unabhängig von Euklid, Descartes und Leibniz, unabhängig von Größe, unabhängig von Zeit“.
Integrität des Gedankens
Es sind die Fußnoten – auch in Daniel López-Pérez Würdigung von Fullers pattern-thinking. In einer der letzten des Buches zitiert er Fuller mit dessen Erinnerung, seine ersten mathematischen Entdeckungen Bekannten mitgeteilt zu haben, die ihn daraufhin fragten, ob er nicht wisse, dass just diese Entdeckungen vor 2.000 Jahren von Democritus gemacht worden seien. Statt enttäuscht zu sein, habe er sich darin bestätigt gefühlt, dass er mit seinen eigenen Mitteln zu Ergebnissen wie denen eines derart Großen kommen konnte. Für den Dichter Fuller hat der Gedanke seine eigene Integrität, unabhängig vom Denker, und wir respektierten ihn entsprechend. “Der Gedanke”, sagt Fuller zu Applewhite einmal, “gehört Ihnen nicht.”
Macht aber ein solches Denken Richard Buckminster Fuller tatsächlich zum maßgeblichen Wegbereiter der Digitalisierung, oder lässt es – welch gewagte Vorstellung! – womöglich nicht diese eher angestaubt aussehen? Angestaubtes, das sei aus Gründen der Fairness hier nicht verschwiegen, gibt es unterdessen selbst im Denken des Genius’ Fuller, dessen Name ja immer wieder auch gern im Zusammenhang seines frühen Erkennens der Bedeutung von „Nachhaltigkeit“ genannt wird. Ein Begriff, den wir heute längst anders wahrzunehmen haben. Er sei, so die Germanistin Eva Horn in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk, „in einer gewissen Weise zu begrenzt“, weil er sehr stark eben die lokale Perspektive und die Stabilitätsperspektive noch mit transportiere. „Nachhaltigkeit“ so Horn, „impliziert ja immer so ein bisschen, dass die Dinge möglichst nachhaltig so bleiben können, wie sie sind, oder dass man eine Technologie so einsetzt, dass sie immer weitergeht und nicht irgendwann Zerstörung oder Vergiftungserscheinungen erzeugt oder auf Ressourcenprobleme stößt.“ Das sei Nachhaltigkeit im überkommenen Verständnis.
Heute freilich – und erst recht in pandemischen Zeiten – gelte es, Begriffe zu finden, die eine radikale Veränderung, einen radikalen Umbau menschlicher Gesellschaft, menschlicher Ökonomien und des ökologischen Verhaltens des Menschen denkbar machen – und nicht nachhaltig so weitermachen wie bisher.*
Nach diesem notwendigen Exkurs, der vielleicht mehr über die sich immer nur beschleunigende Geschichte als über das Denken eines der letzten großen Universalgenies aussagt, kann diese Betrachtung nicht ohne den Hinweis auf den Dichter Fuller enden, der immer auch ein Mystiker war – kein irgend verquaster, sondern einer der, mit Robert Musil zu sprechen, „taghellen Mystik“. Für den Mystiker Fuller ist „die Information im Universum schon immer da gewesen. Die Gesamtinformation ist immer da, aber sie wurde in verallgemeinerungsfähige Inkremente der kosmischen Abstimmbarkeit aufgeteilt.
Die Informationssignale hüpfen ewig elektromagnetisch durch das Universum, treffen immer wieder auf himmlische Entitäten und werden entweder stimmbar empfangen oder prallen ab, um anderswo hin zu reisen.
Wenn wir es nicht schaffen, einen kosmischen Fisch zu fangen, kann es eine Billion Jahre dauern, bis sich die Gelegenheit wieder bietet. Sie wird kommen. Aber vielleicht nicht in dieser Galaxie. In der Summe werden alle Fische irgendwann gefangen und wieder ausgestrahlt werden, aber nicht an denselben Wiederausstrahlungsstationen.“
Exemplarisch zeigen López-Pérez „Pattern-Thinking“ wie das Interwiew mit E.J. Applewhite Jr., dass man es Künstlern, Ingenieuren und Wissenschaftlern verzeihen könne, wenn sie Fuller nicht zuhören. Entscheiden sie sich dafür, ihn zu ignorieren, resümiert der Verfasser dieser Zeilen mit Apllewhite, „würden sie es auf ihrem Gewissen haben, nicht auf seinem.“ Und außerdem – siehe Integrität des Gedankens – steht es jeder und jedem frei, zu entdecken, was Richard Buckminster Fuller vor 70 – 80 Jahren entdeckte. Ehre genug möcht’ es jedenfalls sein.
Der Interessierte findet das gesamte Interview auf der Seite des Buckminster Fuller Institutes unter www.bfi.org/trimtab. Eine deutsche Version kann per Anfrage beim Autor angefordert werden: btalebitar@wiley.com
Daniel López-Pérez,
- Buckminster Fuller – Pattern-Thinking,
Zürich 2020,
ISBN 978-3-03778-609-3
* DLF – Essay und Diskurs, 24.5.2020, Gespräch mit Eva Horn: Der Mensch erscheint im Anthropozän – Folgen einer neuen Epoche