Projekte
“Hier gab es buchstäblich nichts”
Mit Lavasa entsteht in der Nähe der Millionenstädte Mumbai und Pune eine indische Stadt der kurzen Wege. Ein Pilotprojekt.
“Life in Full” versprechen die offiziellen Webseiten, wenn für eines der ambitioniertesten städtebaulichen Entwicklungsprojekte des Landes geworben wird: Lavasa. Vier Stadtquartiere an den Ufern des Warasgaon Stausees, verteilt auf sieben Hügeln des Mose Valleys in den Bergen nahe Pune sollen für 200.000 Menschen zur idealen Heimat werden. Seit 2006 nimmt im westindischen Staat Maharashtra die erste komplett auf dem Reissbrett entworfene, privat erstellte und den Kriterien der ökologischen wie sozialen Nachhaltigkeit verpflichtete indische “Hill City” Gestalt an.
Auch die Architektur versteht sich kosmopolitisch: Hier toskanisch anmutende Gebäudefassaden, dort ein paar Häuser im Chaletstil, etwas weiter eine Reminiszenz an das Bauhaus. Dasve, das erste Stadtquartier, ist als Zentrum von Lavasa konzipiert und fast fertig gestellt: Neben Wohngebäuden und “Lakeside-Appartments”, Land- und Ferienhäusern finden sich hier das Rathaus der neuen Stadt, mehrere Verwaltungsgebäude, Banken, Büro- und Geschäftshäuser. Schulen, Hotels (u.a. das “Mercure Dasve”), ein schon jetzt gefragtes, grosses Kongresszentrum und eine Zweigstelle der weltweit renommierte Hotelfachschule von Lausanne prägen die Szene.
Für das zweite Quartier, Mugaon, haben die Arbeiten begonnen. Hier sollen neben Wohnungen ein Gesundheitszentrum, die “Medi-City” mit Krankenhäusern und medizinischen Forschungseinrichtungen, Büros für IT-Unternehmen, Studios sowie eine Kricket-Academy mit Stadion entstehen. Zudem Shoppingcenter und alles, was eine “richtige Stadt” sonst noch braucht. Nick Faldo baut hier einen 18-Loch-Golfplatz, Bollywood neue Ateliers und Filmstudios. Auch die Planung für die dritte Bauphase ist weit fortgeschritten; vorgesehen ist die Ansiedlung eines IT/ITC-Clusters mit Tausenden von Arbeitsplätzen. Im Endausbau soll sich die Stadt über 5.000 Hektar Fläche erstrecken und ihren Einwohnern ein breites Spektrum an Forschungs- und Produktionsstätten bieten. Vermutlich wird dies aber noch zehn bis 15 Jahre dauern.
Limit der Landflucht
Spannungsgeladene Jahre für die Bauherren, die Hindustan Construction Corp. (HCC) und ihre Projektentwicklungstochter Lavasa Corporation Limited. HCC, 1929 gegründet, war bisher vor allem im Bereich Tiefbau auf dem Heimatmarkt Indien tätig. “Jedes vierte Wasserwerk, jedes zweite Kernkraftwerk und jede zehnte Straße des Landes wurden von uns gebaut”, sagt HCC-Präsident Ajit Gulabchand. Mit dem Pilotprojekt Lavasa betritt HCC Neuland, doch angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums des Landes gehört der Städtebau zu den dringlichsten gesellschaftlichen Aufgaben – und für Bauunternehmen und Projektentwickler zu den einträglichsten künftigen Geschäftsfeldern.
Geschätzte 400 Millionen Menschen, etwa ein Drittel der indischen Bevölkerung, werden in den kommenden 40 Jahren vom Land in die Städte ziehen. Die sind schon heute am Limit; allein in Indiens Finanz- und Kulturzentrum Mumbai (“Boombay”) leben bereits 60 Prozent der rund zwölf Millionen Einwohner in Slums. Nicht weil sie alle zu arm wären, sich besseren Wohnraum zu leisten – es gibt ihn schlichtweg nicht. “Um den riesigen Bedarf an Wohnraum zu decken, muss Indien 500 neue Städte bauen und bestehende erneuern und vergrößern”, sagt Gulabchand.
Ist schon die Reurbanisierung indische Millionenstädte ein ungelöstes Problem, wie sich an den sogenannten Slum-Rehabilitiations-Projekten in Mumbai zeigt, stellt auch der Bau gänzlich neuer Städte. die Beteiligten vor immense Herausforderungen. Bezahlbarer Baugrund liegt weit entfernt von urbanen Zentren, HCC wurde auf der Suche nach dem idealen Gelände für eine neue Stadt im Bergland der Western Ghats fündig. “Als ich mir das Gelände für Lavasa das erste Mal ansehen wollte, musste ich mit dem Boot anreisen – während der Monsunzeit”, erklärt Ambu Jain, Präsident der Lavasa Corporation.
“Hier gab es buchstäblich nichts: Keine Infrastruktur, keine Elektrizität, keine Straßen.” Zuerst baute HCC auf eigene Kosten eine asphaltierte Straße bis zum nächstgelegenen Ort mit Anschluss an das Verkehrsnetz. “Erst mussten wir einen Zugang zu Lavasa herstellen, dann genügend Arbeiter finden, sie unterbringen und versorgen. In der Hauptbauphase von Dasve waren rund 15.000 Leute auf den Baustellen, aktuell sind es noch zirka 2.000,” so Jain. “Wir brauchten völlig neue interne Organisationsstrukturen, um Ressourcen wie Bauarbeiter, Fachkräfte, Material zu managen und Versorgung, Unterkünfte, genügend Trinkwasser, Verpflegung, medizinische Betreuung zu organisieren.”
120 Erdrutsche während der Monsunzeit
Dies war jedoch nur die erste Hürde. Neben der Baulogistik erwies sich der Umgang mit den schwierigen geologischen Verhältnissen, oder einfacher ausgedrückt: die Sicherung des Baugrunds, als extreme Herausforderung. Denn vom tropischen Bergwald, der die Hänge des Tals, in dem Dasve entstehen sollte, ursprünglich überzogen hatte, war nach jahrzehntelanger Brandrodungspraxis nomadisierender Bauern nicht viel übrig. “Von Januar 2003 bis Januar 2004 haben wir den Zugang – sprich die Straße – geschaffen. Im Juni 2004 war’s dann soweit: Unerwartet heftige Monsunregen führten zu 120 Erdrutschen”, berichtet Jain. “Aber”, meint der Ingenieur: “Wir haben daraus viel gelernt.” Beispielsweise, dass man zur Stabilisierung von Böschungen und Hängen keine U-förmigen Flügelmauern setzen sollte. “Sind die Winkel der ‚Wingwalls’ grösser als 90 Grad, wird das Wasser abgeleitet und findet keine Angriffsfläche, um das Stützelement zu untergraben. Seither haben wir keine Erdrutsche mehr gehabt.”
Heute funktionieren die Stützmauern selbst bei heftigsten Regenfällen einwandfrei: Das herabströmende Wasser wird gezielt abgeleitet und über ein Brunnen- und Kanalsystem aufgefangen. Eine andere Entdeckung der Lavasa-Ingenieure ist das Hydroseeding – in Australien inzwischen “state of the art”, in Indien eine Premiere, womit es gelang, die Hügel rund um Dasve in relativ kurzer Zeit wieder zu begrünen. 600.000 Bäume wurden gepflanzt; indigene Gewächse, die HCC auf dem Lavasa-Terrain in riesigen Treibhäusern und einer Baumschule ziehen lässt. “Eine neue Stadt im Gebirge zu bauen, ist eine gewaltige Herausforderung”, sagt Jain.
Zwar habe er sein ganzes Leben lang große Projekte umgesetzt, aber diese Arbeit unterscheide sich völlig von allem, was er kenne. “Ein Projekt dieser Grössenordnung wurde bislang in Indien noch nie in Angriff genommen,” meint er. Eine Aufgabe, die allen Beteiligten grosse persönliche Opfer abverlange. Dennoch zeigt sich Jain sehr zufrieden. “Ich wollte schon immer als Allround-Ingenieur arbeiten,” Hier habe er die Chance, all das zu machen, was Ingenieure im Laufe ihres Arbeitslebens gern tun wollen; jede denkbare Facette der Ingenieurskunst sei hier gefordert. “Das sensible Ökosystem, das extreme, unberechenbare indische Klima, die Wasser- und Bergwelt verlangen ein bis ins letzte Detail vernetztes System”, so Jain. “Wer hier gearbeitet hat”, davon ist er überzeugt, “wird später andere Städte planen und die dazu nötigen Maschinen weiterentwickeln, die wir jetzt konstruieren müssen.” Die nächste Aufgabe für Jain und sein Team: Ein nachhaltiges Energiekonzept zu implementieren. Angedacht sind Windkraft- und Solaranlagen.
Unterdessen wächst die Stadt langsam weiter, die Hotels, Restaurants und Freizeitanlagen von Dasve füllen sich: Die Hotelschule floriert und das neue Kongresszentrum ist ausgelastet. Im Frühjahr 2012 fand hier die Jahreshauptversammlung des Indischen Ingenieursverbands mit mehreren hundert Teilnehmern statt, die die indische Stadt neuen Typs fachkundig examinierten. Den Abschlussabend krönte ein Open-Air-Konzert mit berühmten indischen Bands und Bollywoodstars. Kein Zweifel: Lavasa lebt – trotz aller Hemmnisse, mit denen der HCC-Konzern in den vergangenen Jahren zu kämpfen hatte. Das Gedeihen der indischen Variante einer privat finanzierten Stadt der kurzen Wege – ohne Slums, Verkehrschaos, dafür mit funktionierender Infrastruktur und grüner Umgebung – stößt in Indien auf viel Enthusiasmus, aber auch auf Widerspruch.
So machte bereits in der ersten Bauphase ein überraschend von der indischen Zentralregierung verhängter Baustopp den Zeitplan der HCC-Planer zu Makulatur. Der Zeitpunkt der staatlichen Intervention gibt Beobachtern zu denken: Sie sei “pünktlich” zum geplanten Börsenstart der Lavasa Corporation erfolgt und habe den Markt sehr verunsichert; ein kleineres Unternehmen als HCC hätte dies vermutlich ruiniert. HCC-Chef Ajit Gulabchand liess sich indes nicht abschrecken. Er zog die Causa – HCC habe Planungsrecht verletzt, so der Vorwurf – bis vor das oberste Gericht. Dort wurde der Konzern zwar mit weiteren umweltrechtlichen Auflagen belegt, der Baustopp aber aufgehoben. Nach anderthalb Jahren drehen sich nun erneut die Baukräne; auch der zwischenzeitlich stagnierende Verkauf läuft auf Hochtouren. Die erste Tranche der neuen Wohnungen sei innerhalb weniger Tage verkauft gewesen, heisst es bei HCC. Die städtebauliche Vision nimmt damit weiter Gestalt an. “Die erste Stadt in Indien, die nach den Prinzipien des New Urbanism realisiert wird”, wie Ajit Gulabchand stolz betont, “und: Ein Prototyp”. Denn HCC will mit dem Städtebau in Serie gehen: Mit den Regierungen des Bundesstaats Karnataka und des Königsreichs Bhutan führt der Konzern Gespräche; mit der Regierung des Bundesstaates Gujarat wurde bereits ein ‚Memorandum of Understanding’, ein Vorvertrag, unterzeichnet.
Leserkommentare
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Louis Lembke | 13. Februar 2020
Gibt es neue Informationen über die Stadt ? Bitte haltet eurebn Leser weiterhin auf dem Laufenden :)
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Marlies Kühle | 9. Februar 2021
Im Erdkundebuch wird Lavsa als ein Beispeiel für eine nachhaltigte Stadt vorgestellt. Ich sehe das anders, nach dem Artikel oben. Hab ich recht? Wie sehen andere das?
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Marlies Kühle | 9. Februar 2021
Wieso wartet mein Kommentar auf Freischaltung?