Leben
Stefan Polónyi und der Stahlbau

Bild 1 Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. E.h. mult. Dr. h.c. Stefan Polónyi (Juni 2020) (Foto: Andreas Schmied)
Der 1930 in Ungarn geborene Bauingenieur und Hochschullehrer Stefan Polónyi (Bild 1) sagt von sich selbst, er sei während seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Budapest mit dem „Schalenbazillus“ infiziert worden. Wenn es einen solchen tatsächlich gibt, dann muss er sich wohl irgendwann später auch mit einem „Bogenbazillus“ angesteckt haben. Polónyi, der sich bereits in jungen Jahren als Ingenieur in Köln selbständig machte und sich dabei rasch vom rechnenden Statiker zum entwerfenden Tragwerksplaner entwickelte, wird meist mit seinen Schalenbauten und Faltwerken aus Beton in Verbindung gebracht. Doch hat er auch eine Reihe von wichtigen Stahlbauten entworfen, bei denen oft der Bogen als effizientes Tragelement im Vordergrund steht. Nachfolgend werden hier einige wenige Beispiele vorgestellt.

Köln Hbf - Anfangs- / Mittel- / Endpunkt einer Reise mit der Bahn
(Foto: Deutsche Bahn AG / Axel Hartmann)Beginnen wir mit dem Übergang von der Schale zum Bogen. Die Bahnsteigüberdachung im Anschluss an die denkmalgeschützte Haupthalle des Kölner Hauptbahnhofs (1991, Bild 2) hat einen direkten Sichtbezug zum benachbarten Kölner Dom. Die neuen Vorhallen, welche Polónyi mit den Architekten Busmann + Haberer entworfen hat, greifen den Genius Loci mit einem Flächentragwerk aus Kreuzgewölben auf 29 Stützen im gekrümmt-verzerrten Rautenraster auf. Als moderne Interpretation sind diese jedoch verglaste, filigrane Stahl-Stabwerksschalen.

Bild 3: Glashalle der Leipziger Messe (1996), Stefan Polónyi, GMP & Ian Richie (Foto: Leipziger Messe / Grubitzsch)
Die Glashalle ist das neue Wahrzeichen der Leipziger Messe (1996, Bild 3) und wird mit Joseph Paxtons Crystal Palace für die Weltausstellung 1851 in London verglichen. Getragen wird die Glashalle von großen Fachwerkbögen, von denen eine Glastonne ohne Dehnungsfugen abgehängt ist. Die Glasscheiben sind mit Punkthaltern zwängungsfrei befestigt. Die Giebelfassaden sind selbsttragend. Die mit 80 m Spannweite und 240 m Länge größte Vollglashalle Europas wurde von GMP konzipiert, Ian Ritchie übernahm die Gestaltung und Stefan Polónyi die Tragwerksplanung.

Bild 4: Doppelbogenbrücke über den Rhein-Herne-Kanal Gelsenkirchen (1997) Stefan Polónyi & Feldmeier + Wrede (Foto: P. Stoick)
Polónyis Brücken, die ab den 1990er Jahren im Ruhrgebiet entstanden, sind mit ihren roten gebogenen Rohren mittlerweile zu Landmarken geworden. Diesen Brücken ist gemein, das die tragenden Bögen nicht parallel zum Brückendeck liegen, sondern dieses kreuzen. Dies ergibt sich, um trotz Beibehaltung des Wegenetzes die kürzeste und damit günstigste Spannweite zu erreichen. Die Bogenform und die räumliche Anordnung der Abspannseile sind so bestimmt, dass im Bogen nur minimale Biegebeanspruchungen auftreten. Am bekannteste ist vielleicht die Doppelbogenbrücke über den Rhein-Herne-Kanal im Nordsternpark Gelsenkirchen (1997, Bild 4) mit einer Bogenspannweite von 80 Metern, konzipiert von Stefan Polónyi zusammen mit PASD Feldmeier • Wrede für die Bundesgartenschau. Entstanden sind hier strukturelle Skulpturen mit technisch-funktionalem Hintersinn.

Bild 5 Tiergartenbrücke Dessau (2001), Stefan Polónyi & kister scheithauer gross (Diether Münzberg / kister scheithauer gross)
Die Tiergartenbrücke (2001, Bild 5) von Stefan Polónyi und kister scheithauer gross verbindet über die 100 Meter breite Mulde die Stadtmitte von Dessau mit einem Naherholungsgebiet. Auch hier wurden die geschwungenen Spazierwege aufgegriffen, auf Flusspfeiler verzichtet und ein Signet für die Stadt geschaffen. Der Stahlrohrbogen ist 17 Grad geneigt, von dem mit Rundstahlstäben der kreissegmentförmige (R=105 m) Stahlhohlkasten-Wegträger abgehängt ist.
Last but not least sei auch erwähnt, dass Stefan Polónyi, der als launiger Redner bekannt ist, auch diverse Bücher geschrieben hat. Hier sei das zusammen mit Wolfgang Walochnik verfasste und 2003 beim Verlag Ernst & Sohn publizierte Buch Architektur und Tragwerk erwähnt (Bild 6). Das Arbeitsbuch für Ingenieure und interessierte Architekten illustriert anhand zahlreicher Beispiele den Entwurf von Tragwerken und gibt einen Einblick in die Arbeitsweise des Ingenieurs Stefan Polónyi.
Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. E.h. mult. Dr. h.c. Stefan Polónyi ist am 6. Juli 2020 90 Jahre alt geworden, wozu die Stahlbau, Bautechnik und Beton- und Stahlbetonbau des Verlags Ernst & Sohn herzlich gratulieren und als einen der bedeutenden Bauingenieure der vergangenen Dekaden in Deutschland würdigt.
Lesenswertes:
Laudatio Prof. Dr.-Ing. Bollinger, Prof. Dr.-Ing. Harald Kloft
Bauteiloptimierung durch Funktionsintegration
Bewertungsstrategien für den Beton-3D-Druck
aus dem Jahr 1998:
Sie bauen und forschen: Bauingenieure und ihr Werk, Beitrag von Stefan Polónyi