Historie
“Trocken wie in der Stube” – der erste Themsetunnel
London war um 1800 eine der geschäftigsten Städte mit schon damals 6 Brücken über die Themse. Der Hafen für den weltweiten Waren- und den Binnenverkehr lag mitten in der Stadt. Die seegängigen Schiffe konnten bis zur London-Bridge fahren, der ersten Brücke, die flussaufwärts die Ufer der Themse verband. Außerdem verkehrten Fähren, die sich einen Weg durch die vielen Handelsschiffe bahnen mussten. So bestand ein starkes Interesse an einer weiteren Verbindung, dem der erfahrene Ingenieur Marc Isambard Brunel mit seinem Vorschlag eines Tunnels entgegenkam.
Nach der Baugenehmigung und der Akquise finanzieller Mittel, fand am 2. März 1825 die Grundsteinlegung statt, dabei wurde die glückliche Verbindung von Kunst und Wissenschaft, die sich in diesem Projekt zeige, hervorgehoben.
Bevor der Tunnel vorgetrieben werden konnte, musste, um die notwendige Tiefe zu erreichen, zunächst der senkrechte Arbeitsschacht gebaut werden. Erst nach der Fertigstellung des unterirdischen Ganges sollten schneckenförmige Zufahrtsrampen für Fahrzeuge gebaut werden. Brunel hatte die geniale Idee, den Schacht oberirdisch aufmauern und sich durch das eigene Gewicht absenken zu lassen. Am 1. April 1825 wurde mit dem Abtragen des Bodens im Innern begonnen. Auf dem Schacht wurde eine Dampfmaschine installiert, die das sich am Grund sammelnde Wasser abpumpte und mit einem Kettenbagger den Boden aus der Tiefe herausbeförderte. Das langsame Absenken des Schachtes bis zu einer Tiefe der Sohle von 20 m bereitete „den Zuschauern große Freude“.
Der dänische Architekt Benjamin Schlick schreibt darüber: „Während ich das Werk beobachtete, fühlte ich deutlich einen Stoß, das Gebäude sackte plötzlich um 20 cm mit einem donnernden Geräusch ab. Wir waren vor Bestürzung ergriffen, wir dachten der Mauerverband wäre zerstört und die Dampfmaschine mit dem Kessel würde uns auf den Kopf fallen. Glücklicherweise setzte es sich wieder fest “. (The triumphant bore, London o.J., S. 9)
Als Architekt gehörte Schlick zu den Fachleuten, die aus beruflichem Interesse schon immer besondere Baustellen besucht hatten. Hier aber drängte schon in diesem frühen Stadium eine Vielzahl von „hochgeborenen“ Gästen auf die Baustelle, darunter Grafen und Herzoginnen, Prinzen und Staatsmänner, die sich gewöhnlich nicht in dieser Gegend der Stadt zeigten. Dabei benutzten die Herren die für die Arbeiter errichteten Leitern, von denen auch der erste bekannte Berliner Besucher, der Bergrath Johann Friedrich Krigar, berichtete. Den Damen wurde das erspart, sie wurden in einem besonders ausgepolsterten Sessel an Seilen herabgelassen.
Im November 1825 konnte mit dem Vortrieb begonnen werden. Jedes der zwölf Teile des Schildes war 90 cm breit, 6,40 m hoch und 1,80 m tief und enthielt übereinander drei Abteilungen für jeweils einen Arbeiter. Der gesamte Querschnitt betrug 63,36 m². 36 Arbeiter konnten gleichzeitig an vorderster Front schürfen. Die abzutragende Fläche war durch 11 cm breite Bretter abgeschlossen, von denen jeweils nur eines zum Aushub entfernt werden durfte. War die Schicht dahinter abgetragen, wurde das Brett erneut fixiert und das nächste herausgenommen. War das auf der ganzen Höhe geschehen, konnte der gesamte Schild durch Schrauben bis zu 23 cm vorwärtsgeschoben werden. Gleichzeitig diente der Schild den Maurern als Gerüst, die Zahl der darin beschäftigten Arbeiter war also erheblich höher. Das Mauerwerk, das sofort nach dem Vorrücken des Schildes aufgemauert wurde und zu dessen Widerlager diente, hatte eine Mindeststärke von 76 cm und war mit „römischem“ Zement (Portlandzement), der schnell aushärtete und danach wasserdicht war, gemauert. Dessen Härte und Eigenschaften hatte Brunel ausgiebig getestet.
Nach einem halben Jahr (Mai 1826) war der Tunnel bereits 100 Fuß vorgetrieben. Trotz der vielen technischen Einrichtungen, die sich darin befanden, wurde nun auch die architektonische Großartigkeit des Gebäudes deutlich, als die ersten Verbindungen zwischen beiden Röhren ausgehauen wurden und damit der eigentliche Bogengang entstand.
Am 6. Juni 1826 besuchten der preußische Architekt Karl Friedrich Schinkel und sein Freund, der bedeutende Förderer des Gewerbewesens in Preußen, Peter Christian Wilhelm Beuth, erstmals die Baustelle, darüber schreibt Schinkel in sein Tagebuch:
„Gang zum Office des Hr Brunnel, von da über Blackfriars Bridge schönes Wetter herrliche Ansicht der Stadt von den Strassen jenseits St Pauls am Wasser. Die Kirch v St Pauls ganz besonders schön, auch die Brücke Soutwarks. Wir gehn dann durch einen ärmlichen Stadttheil nehmen eine Barke fuhren zum Tunnel. Eine Dampfmaschine mit 2 liegenden Cylindern hebt das Wasser fort, steht in dem 20 Fuß weit gemauerten Brunnen. Der Dampfkessel ist außerhalb der Dampf wird in das Gebäude hineingeleitet. Die Arbeit ist bis zum Rand des Flusses vorgeschritten.
Im Anfange kommt mehr Feuchtigkeit durch als am Ende, gegen den Fluß zu scheint das Terrain dichter. Die Seitenverbindungen der beiden Tunnels werden später eingehauen, man war dabei beschäftigt die erste zu machen, das Gewölbe ist 3 Backsteine hoch die Schichten oder Ringe werden ohne Verband nebeneinander gemauert mit römischem Cement mit starken 3/4 zölligen Fugen. Es rückt alle Tage 2 Fuß; 10 Zoll sind immer nur von der Decke frei fürs Mauern einer Gewölbeschicht. Beleuchtung der Arbeit mit transportablem Gase. Herr Brunel erzählt mir, daß eine Schwierigkeit entstehe, weil eine kleine Wendung des Tunnels von nun an nöthig werde. Er ist sehr ruhig über den sicheren Ausgang der Arbeit. Die Commission hat alles gut gefunden … Am Ende der Arbeit war alles trocken wie in der Stube. Schrauben rücken die Schildmaschine einfach vor welche ganz aus Eisen konstruiert ist.“ ( Schinkel: Die Reise nach Frankreich und England im Jahre 1826, München 1990. S. 125)
Zwei Monate später, nachdem Wasser eingebrochen war, besuchten die Freunde den Tunnel erneut, Schinkel schreibt:
„Fahrt nach den Tunnels, es wird niemand mehr in die gewölbten Gänge eingelassen, sondern man sieht von einem Balkon im Thurm unter den Wasserpumpen in das Gewölbe hinein. Das rechte Gewölbe schien viel Wasser an einer Stelle durchzulassen, wo auch Rüstwerk zur Restauration des Werks angebracht waren.“ (Schinkel 1990, S. 173/174)
Nach der Beseitigung der Schäden und dem Abpumpen des Wassers ging es 1826 beim Vortrieb einige Zeit gut voran, aber der leitende Ingenieur musste krankheitshalber ausscheiden, da wurde am 3. Januar 1827 der Junior, Isambard Kingdom Brunel, als noch sehr junger Mann von zwanzig Jahren im Amt des leitenden Ingenieurs, das er bereits einige Zeit vertretungsweise wahrgenommen hatte, bestätigt.
Durch zahlende Besucher – für einen Shilling pro Person – sollte der Tunnel nunmehr sofort Geld einbringen. Brunel lehnte das Ansinnen ab, konnte sich aber nicht durchsetzten. Er hob hervor, dass er keine Unterhaltung produziere, dass die Besucher seine Arbeiter im besten Falle stören, im ärgsten – bei geschätzten sechs- bis siebenhundert Besuchern am Tag – aber die Zahl der Opfer erhöhen würden.
Schließlich wurde am 27. Februar 1827 beschlossen, dass die Besucher den Schacht hinabsteigen und 300 Fuß weit im westlichen, frisch geputzten Bogengang gehen konnten, um von einer hüfthohen Barriere den noch 200 Fuß entfernten Schild sehen zu können, der sich nun etwa unter der Mitte der Themse befand. In den ersten drei Tagen kamen mehr als 1000 Besucher, was bei dem hohen Preis und der schlechten Erreichbarkeit der Baustelle ein Wunder war. Von da an blieb der Tunnel trotz der zeitweiligen Wassereinbrüche ein erfolgreicher Anziehungspunkt für die Touristen.
Die Einbruchstellen wurden üblicherweise mit der Taucherglocke untersucht. Entstandene Krater wurden mit dem bereits von Richard Trevithick bei seinem Versuch, einen Themse-Tunnel zu graben, erfundenen System geschlossen: Mit Lehm gefüllte Salpetersäcke, in die zusätzlich Haselnussäste gesteckt waren, wurden auf einem Gitter aus eisernen Stäben aufgehäuft.
Auch im Juli 1827 war der Tunnel noch unter Wasser, da besuchte der exzentrische Fürst Pückler-Muskau ihn erstmals. Er schreibt darüber in seinen „Briefen eines Verstorbenen“:
„Ein freundlicher Sonnenblick lockte mich ins Freie, das ich jedoch bald wieder mit dem Unterirdischen vertauschte. Ich besah nämlich den berüchtigten Tunnel, die wunderbare 1200 Fuß lange Kommunikation unter der Themse. Du hast wohl in den Zeitungen gelesen, daß vor einigen Wochen das Wasser des Flusses einbrach und sowohl den über 100 Fuß tiefen und 30 Fuß breiten Turm am Eingang, als auch den schon 540 Fuß langen, fertigen doppelten Weg gänzlich anfüllte.“ (Pückler-Muskau: Briefe eines Verstorbenen, Berlin 1986, S. 692)
Und einen Monat später, am 20. August, kehrte Pückler-Muskau zur Baustelle zurück und schreibt darüber:
„Die Neugierde führte mich heute nochmals zu den Arbeiten am Tunnel, wo ich in der Taucherglocke mit auf den Grund des Wassers hinabfuhr und wohl eine halbe Stunde dem Stopfen der Lehmsäcke, um den Bruch wieder mit festem Boden zu füllen, zusah. […] Dieses Behältnis hat keinen Boden … […] Die Arbeiter hatten herrliche Wasserstifel, welche 24 Stunden lang der Nässe wiederstehen, und es belustigte mich, die Adresse des Verfertigers derselben hier bei den Fischen, ‚auf des Stromes untertiefstem Grund‘, in mein Portefeuille zu schreiben.“ (Pückler-Muskau 1986, S. 711)
Eine Karikatur zeigt diesen Wassereinbruch mit dem Titel „Eine weitere geplatzte Blase!“ Fürst Pückler-Muskau schreibt dazu: „Der Tunnel ist ein gigantisches Werk, praktisch nur hier vorhanden, wo die Leute nicht wissen, was sie mit ihrem Geld machen sollen.“
Erst am 30. September 1827 konnten die Bauarbeiten fortgesetzt werden, am 10. Oktober schien die Lage so entspannt, dass das Publikum viel näher an den Schild herangelassen wurde. Der Tunnel war wieder trocken. Um das zu feiern, organisierte Brunel das Celebration Banquet am10. November. Der Boden wurde gereinigt, die Wände wurden mit Stoff behängt, die langen Tische mit weißem Damast eingedeckt. Gasbeleuchtung in Kandelabern auf den Tischen und an den Wänden erhellte den Raum. Der Schild wurde sorgfältig gereinigt. Die Veranstaltung unter Tage sollte das Zutrauen der Geldgeber und Besucher stärken. Die Band der Coldstream Guards intonierte beim Erscheinen der Gäste ein Stück aus dem „Freischütz“. Geladen waren 40 Gäste, außerdem nahmen etwa 120 Maurer und Grubenarbeiter teil.
Im Oktober 1827 legte das Mitglied des Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes in Preußen, Johann Friedrich Krigar, der bereits 1814 den englischen Lokomotivbau ausspioniert hatte, eine Darstellung des Tunnels und eine in deutscher Sprache in London veröffentlichte Schrift darüber vor. Der Verein beschloss, dass die Zeichnungen kopiert und mit einem Text „versehen in die Verhandlungen sobald als möglich aufgenommen werden, um so den Lesern derselben eine Uebersicht dieses höchst merkwürdigen Baues vorlegen zu können“. (Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbfleißes … 6, 1827, S. 221 f.) Ende des Jahres erschien darin in Berlin der Bericht von Beuth, der die Baustelle gemeinsam mit Schinkel besucht hatte. Auf Berlin und Preußen bezogen, beginnt er mit der Überlegung: „Ich bin lange mit mir uneins gewesen, ob es sich durch die Zwecke des Vereins rechtfertigen lasse, ihn mit dem Baue der Straße (des Tunnels) unter der Themse in seinen Verhandlungen zu unterhalten, und wenn ich mir heute den gerechten Vorwurf zuziehe, einen Gegenstand zu berühren, dem alle praktische Anwendbarkeit für die Mitglieder des Vereins mangelt, so dürfte es mir zur Rechtfertigung gereichen, daß die Sache eine technische ist, daß sie das allgemeine, den Menschen ehrende, Interesse für große und schwierige Unternehmungen erregt, …“ (Verhandlungen … 6, 1827, S. 286-295 + Taf. 25, 26) Beuth hielt also ein vergleichbares Bauwerk z. B. in Preußen noch für ganz undenkbar – es sollte tatsächlich erst gut 70 Jahre später in Berlin in Angriff genommen werden.
Anfang 1828 brach erneut Wasser in den Tunnel ein. Im April 1828 war der Krater wie beim ersten Wassereinbruch aufgefüllt und geschlossen. Nun konnte mit dem Abpumpen begonnen werden. Am 26. Mai waren die Verschmutzungen im Tunnel beseitigt und das Publikum konnte wieder zugelassen werden. Die finanzielle Situation der Gesellschaft war weiterhin kritisch, deshalb fand am 5. Juli eine Versammlung statt, um Geld zu sammeln. Der bedeutendste Unterstützer war wieder der Duke of Wellington, der das Werk als „greatest work of art“ bezeichnete. Seine und die von ihm angeregten Spenden reichten aber bei weitem nicht aus, um die Arbeiten fortsetzen zu können. Die Zeiten hatten sich geändert, in drei Wochen wurden nur 9600 £ subskribiert, 200.000 £ wären notwendig gewesen. Die Arbeiten wurden daraufhin eingestellt, der Tunnel wurde am 9. August 1828 hinter dem Schild zugemauert. Ein großer Spiegel auf der Wand mitten unter der Themse gaukelte nun den Besuchern, die weiterhin auf die Baustelle strömten, die wahre Länge vor.
Während die Bauarbeiten ruhten, wurde am 29. April 1834 Marc Isambards Brunels 65. Geburtstag aufwendig gefeiert. Inzwischen war er Mitglied der meisten europäischen wissenschaftlichen oder technischen Gesellschaften – darunter auch des Sonntagsvereins „Tunnel über der Spree“ in Berlin – geworden. Der König hatte ihn empfangen und sich insbesondere den Tunnel erklären lassen. Marc Isambards Bemühungen war es schließlich zu danken, dass Ende 1834 eine Regierungsanleihe über 250.000 Pfund beschlossen wurde. Jetzt wurde ein neuer Schild gebaut, eine Taucherglocke mit Tender angeschafft und das Schiff „Ganges“ erworben, um bei jederzeit handlungsfähig zu sein. Die Position des leitenden Ingenieurs übernahm im Januar 1835 wieder Richard Beamish, weil der jüngere Brunel für die Great Western Railway arbeitete.
Die Probleme waren auch nach der 8-jährigen Pause aber nicht grundsätzlich gelöst, so nahm am 23. August 1837 das Wasser im nun 750 Fuß langen Tunnel wieder außergewöhnlich schnell zu, der leitende Ingenieur Page ließ den Tunnel für Besucher sperren. In der bereits gewohnten Art wurde das Loch geschlossen und die Arbeit fortgesetzt.
Am 25. März 1843 fand nach weiteren Zwischenfällen endlich die große glanzvolle Eröffnung statt. Der Tunnel war nun 365,80 m lang. 99 Stufen waren hinab und dann wieder hinauf zu steigen. Bis Ende April 1843 zählte man 495.000 Besucher, innerhalb von 18 Wochen war es 1 Million, in den ersten 9 Monaten 1,8 Millionen. Dennoch erhielt Brunel die vereinbarte Erfolgsprämie nicht.
Die Gesamtkosten betrugen 486.250 £.
Der Aufmerksamkeit der beiden Brunels war es ebenso wie den verantwortlichen Bauleitern zu verdanken, dass bei dem Bau insgesamt „nur“ sechs Todesopfer unter den Arbeitern zu beklagen waren, das Publikum konnte bei all den Wassereinbrüchen immer rechtzeitig ferngehalten werden.
Der Schriftsteller Theodor Fontane gehörte zu den unzähligen Besuchern des Tunnels, die das Bauwerk mehr wegen der dort gebotenen Unterhaltungen besuchten, als es zweckentsprechend zu benutzen. Der Zweck kam eigentlich erst zum Tragen, als der Tunnel in das entstehende U-Bahn-Netz Londons einbezogen wurde. In dieser Funktion dient er bis heute dem Transport, ist allerdings den Besuchern nicht zugänglich. Gütertransport hat dort nie stattgefunden, weil die schneckenförmigen Zufahrtsrampen aus Kostengründen nicht hatten gebaut werden können.
Weitere Informationen:
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