Vermischtes
Wirtschaftsethik und Menschenbilder
Was wir vom ehrbaren Kaufmann lernen können
Von Prof. Dr. Hanspeter Gondring FRICS
Wirtschaftswissenschaftler und Hochschullehrer für Betriebswirtschaftslehre
Die Wirtschaftswissenschaften als Teil der Kulturwissenschaften haben das Grundproblem, wie in allen ökonomischen Modellen das menschliche Verhalten abzubilden ist. Ausgehend von der Individualität des Menschen lässt sich das Verhalten eines Individuums kaum verallgemeinern, was aber gerade von der Wissenschaft gefordert wird: Formulierung allgemeingültiger, intersubjektiv nachprüfbarer Aussagen in Raum und Zeit! Dieses Dilemma lösen die Wirtschaftswissenschaften seit jeher mit verschiedenen Grundannahmen menschlichen Verhaltens, was jeweils unter dem Begriff „Menschenbilder“ (Einstellung von Menschen zu anderen Menschen) zusammengefasst wird, wobei sich die Menschenbilder in den letzten Jahrhunderten mehr oder weniger stark gewandelt haben.
Das Verhaltenskonstrukt des „Homo Oeconomicus“
Das wohl jedem bekannte Menschenbild ist das vom „Homo Oeconomicus“, dessen Figur zwar älteren Datums ist, aber der erstmals von Alfredo Pareto präzisiert und in die wissenschaftliche Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde. Das Verhaltenskonstrukt des ,,Homo Oeconomicus“ unterstellt einen allwissenden, kühlen, rationalen, egoistischen und streng zielorientierten Menschen. So mag dieser wegen seiner „maschinellen Funktionsweise“ zwar sehr anschaulich und leicht verständlich sein, ist aber von der Realität so weit entfernt, dass die moderne Wirtschaftstheorie heute auf andere, den meisten weniger bekannte Menschenbilder, zurückgreift.
Einige Jahrzehnte nach Pareto begründet Williamson den Transaktionskostenansatz als einen Teil der heutigen Neuen Institutionenökonomie. Interessant sind seine verhaltenstheoretischen Annahmen, wonach der Mensch einerseits in seinem Verhalten beschränkt rational ist und sich andererseits opportunistisch verhält. Das von Williamson geprägte Menschenbild unterstellt ein strategisches Verhalten des Betrügens, des Verschweigens, des Stehlens und des bewussten Vertragsbruchs, sowie subtiler Formen, wie des bewussten Verstoßes gegen den „Geist“ eines Vertrages trotz der buchstabengetreuen Vertragseinhaltung.
„Prüfe, wer sich ewig bindet!“
Wenn diese Aussagen auch sehr extrem erscheinen mögen und sicherlich nicht verallgemeinert werden können, so sind sie aber dennoch Teil der Wirtschaftspraxis. Jeder in der Immobilienwirtschaft kennt das Instrument der Due Diligence, deren Aufgabe es doch ist, eine durch den Verkäufer einer Immobilie erzeugte Informationsasymmetrie (Verkäufer verschweigt die ihm bekannten Risiken der Immobilie) seitens des Käufers durch eine „Inventur der erkennbaren Risiken“ ganz oder teilweise aufzuheben, um so die aufgedeckten (aber verschwiegenen) Risiken einzupreisen.
Oder warum lassen wir vor dem Kauf eines gebrauchten Fahrzeugs dieses noch einmal von einer unabhängigen Prüfeinrichtung schätzen, warum gibt es eine Probezeit in den Arbeitsverträgen, warum lassen wir uns eine Schufa-Auskunft erteilen oder Referenzen vorlegen usw. Selbst vor der Trauung gibt es das „Konstrukt“ der Verlobung, das dazu dient, die (negativen) Eigenheiten des jeweiligen Partners unter Alltagsbedingungen aufzudecken („Prüfe, wer sich ewig bindet“).
All diesen Handlungen liegt die implizite Annahme z.B. eines Käufers, eines Arbeitgebers, eines Vermieters, eines Kreditgebers, eines/r Verlobten, zugrunde, dass der Vertragspartner sich opportunistisch verhält, das heißt er verschweigt die für ihn sich nachteilig auswirkenden Informationen oder umgekehrt, dass durch opportunistisches Verhalten des einen Vertragspartners versucht wird, einen Vorteil aus der bewusst erzeugten Informationsasymmetrie zu ziehen. Wir merken im Alltag schon gar nicht mehr, wie wir ständig unserem „Gegenüber“ opportunistisches und damit unethisches Verhalten unterstellen. Und jeder hat mindestens einmal die Erfahrung der Untreue oder des Vertrauensmissbrauchs erlebt.
Wirtschaftsethik und der „ehrbare Kaufmann“
Und damit sind wir gleich im Thema „Wirtschaftsethik“ und des Problems, dass z. B. der deutschen Volkswirtschaft jedes Jahr ein zweistelliger Milliardenbetrag durch unethisches Verhalten verloren geht. Werden die Transaktionskosten (Rechtsanwälte, Risikoprüfung, Kontrolle usw.) dazugerechnet, erhöht sich dieser Betrag um ein Vielfaches. Unethisches Verhalten der Marktteilnehmer kostet Wohlstand!
Es bedarf erst gar nicht der griechischen Philosophen oder gar der biblischen Texte für das richtige ethische Verhalten, sondern es ist völlig ausreichend, sich mit dem Bild des „ehrbaren Kaufmanns“ zu beschäftigen. Der ehrbare Kaufmann gibt ein ethisches Grundgerüst für das Handeln von Kaufleuten, Unternehmern, Managern und darüber hinaus für jeden Teilnehmer am Wirtschaftsleben. Bereits im § 1 Abs. 1 IHK-G ist es eine Aufgabe der IHK auf die „ … Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken“. Das Menschenbild des ehrbaren Kaufmanns reicht bis ins Mittelalter zurück.
Zibaldone (1320) schrieb, dass ein betrügerischer Kaufmann das Vertrauen und seine Ehre verliert und mit dem „unehrlich erworbenen Geld“ nicht glücklich wird. Später schrieb Pacioli (1494) in seinen Handelsbüchern: „Bei der Ehre des wahren Kaufmanns“ (per fidem bonae et fidelis mercatoris). Danach muss der Kaufmann seinen Ruf schützen, weil ein beschädigter Ruf sein Ruin ist. Auch der Hansekaufmann ist der Ehre verpflichtet, Geschäftsabschlüsse auf Treu und Glauben zu tätigen, seine Ehre war eng mit dem „gelovens“, der Kreditwürdigkeit, verbunden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es zwei grundlegende Werke über den ehrbaren Kaufmann:
1. Oswald Bauer: Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen (1906)
2. Werner Sombart: Kaufmanns Wirken und Wissen – Einst und Jetzt (1923)
Während Bauer mehr die Person des ehrbaren Kaufmanns im Blick hat, beschreibt Sombart die Handlung und das Verhältnis des ehrbaren Kaufmanns zu anderen Kaufleuten und zur Gesellschaft. Aber die Grundlage für das Bild des ehrbaren Kaufmanns wird von Bauer geprägt, der neben den Kaufleuten auch expressis verbis Fabrikanten, Bankiers, Kommissionäre, Spediteure, Fleischer, Bierbrauer u. a. aber auch Makler (!) miteinbezieht.
Das Werk von Bauer ist zwar im strengen Sinne nicht wissenschaftlich, so ist es doch eine kluge Zusammenfassung von Erfahrungen und den Kenntnissen früherer Handelsbücher und erkennt bereits das sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts abzeichnende Grundverständnis des neuen ethischen Verständnisses eines modernen Kaufmanns, was später Einzug in die Betriebswirtschaftslehre gefunden hat.
Bildung des Kaufmanns als die innere Ehre (Bauer)
Für Bauer ist von zentraler Bedeutung die Bildung des Kaufmanns für seine Ehrenhaftigkeit (er schreibt vom gebildeten Kaufmann). Der Kaufmann muss über eine gute Allgemeinbildung sowie ein hohes Fachwissen verfügen und ist zur Fortbildung verpflichtet (die RICS z. B. schreibt ihren Mitgliedern eine jährliche Fortbildungspflicht vor; auch die neue MaBV schreibt eine Fortbildungspflicht für Makler und Hausverwalter vor).
Das Bildungsverständnis nach Bauer ist die Kombination aus Bildung, Fleiß, Geschäftsgewandtheit und Besonnenheit sowie eines gefestigten Charakters, womit dem Werk von Bauer das von Humboldt geprägte Leitbild einer humanistischen Bildung zugrunde liegt. Von der Antike bis zu Humboldt wird ein Zusammenhang zwischen Bildungsstand, Ethos (Summe der Wertvorstellungen eines Subjektes) und dem ethischen Verhalten eines Subjektes gesehen. Vor diesem Hintergrund sind für Bauer die Bildung und die Fortbildung wesentliche Essenz für ethisches bzw. ehrenhaftes Verhalten. Die so verstandene Bildung ist die innere Ehre des Kaufmanns. Wer keine innere Ehre hat, kann auch nicht nach außen ehrenhaft handeln.
Das Grunddilemma des ehrbaren Kaufmanns
Er erkennt auch das Grunddilemma des ehrbaren Kaufmanns der Moderne:
- Das Problem, dass ehrbares Verhalten von der Außenwelt erst erkannt werden muss und:
- Jeder kann unabhängig von seiner Vorbildung Kaufmann werden. Bauer fordert deshalb, dass gerade der ehrbare Kaufmann den Ehrgeiz haben muss, seine Bildungslücken zu erkennen und selbständig durch dauernde Fortbildung auffüllen muss!
Während im angelsächsischen Raum die eigene Fortbildung verpflichtend und auch ein zentrales Einstellungskriterium ist, wurde in Deutschland lange Zeit die Fortbildung mehr oder weniger als „notwendiges Übel“ angesehen, was sowohl bei den Unternehmen (aus kostentechnischer Sicht) als auch bei dem/der Einzelnen (der Freizeitwert wird höher geschätzt als der Bildungswert) eine ausgeprägte (Weiter-) Bildungsmüdigkeit verursacht hat.
Erst jetzt kommt es zu einem Erwachen, dass angesichts der sich rasant entwickelnden Märkte und Techniken und der sich immer schneller verkürzenden Halbwertzeiten von Wissen, die Fortbildung unerlässlich wird.
Lebenslanges Lernen und lebenslange Fortbildung
Unternehmen, Mitarbeiter/innen und Gesetzgeber wachen jetzt auf und forcieren das „lebenslange Lernen“ in Form der „lebenslangen Fortbildung“. Diese eher technische Sicht auf die Fertigkeiten und Kenntnisse (in der Summe als Bildung bezeichnet) übersieht dabei immer noch, dass die Bildungspflicht jedes Einzelnen als innere Ehre im Sinne von Bauer anzusehen ist. Als Imperativ hat jeder Kunde und jeder Geschäftspartner das (ethische) Recht, dass sein Gegenüber (sei es der Verkäufer, der Makler, der Projektentwickler, der Architekt, der Banker, der Jurist usw.) auf dem neuesten Wissensstand ist!
Frei nach I. Kant:
Die Bildung ist das Tor zur Freiheit des Einzelnen.