Historie
Mathematische Eleganz par excellence: Lagrange
„Fünf Mathematiker, Alexis Claude Clairaut, Leonhard Euler, Jean le Rond d’Alembert, Joseph Louis Lagrange und Pierre Simon Laplace, teilten unter sich die Welt auf, deren Existenz Newton enthüllt hatte. Sie erklärten sie nach allen Richtungen (…) und (…) brachten (…) alles, was höchst verwickelt und geheimnisvoll in den Bewegungungen der Himmelskörper ist, unter die Herrschaft eines einzigen Prinzips, eines einheitlichen Gesetzes“. Mit diesen Worten würdigte der französische Physiker und Freund Alexander v. Humboldts (1769-1859), Dominique François Arago (1786-1853), die Mathematik und Mechanik der Aufklärung.
Während die Wissenschaftliche Revolution im 17. Jahrhundert dadurch gekennzeichnet war, dass sich das mathematische und naturwissenschaftliche Denken eines Stevin, Galilei, Descartes und Newton von der Philosophie emanzipierte und die Welt der materiellen Produktion entdeckte, begründete die Mathematik und Mechanik des 18. Jahrhunderts die Schaffung eines umfassenden materialistischen Weltbildes des aufsteigenden Bürgertums. Mit den in aristokratischen Salons, absolutistischen Höfen und Akademien des 18. Jahrhunderts diskutierten naturwissenschaftlich-philosophischen Themen wie das Dreikörperproblem (gravitative Wechselwirkung von Sonne, Erde und Mond), die schwingende Saite (Musiktheorie), die Gestalt der Erde bestimmte das Bürgertum schon vor der französischen Revolution die Richtung der weltanschaulichen Auseinandersetzung. Diese geistige Hegemonie und das damit verbundene Selbstbewusstsein konnten sich aber erst in dem Maße entfalten, wie es dem Bürgertum gelang, der naturwissenschaftlichen Grundlage seines Weltbildes jene Einheitlichkeit und Geschlossenheit zu verleihen, die noch heute hohen Respekt abfordert. So vollendete Joseph Louis Lagrange (Bild 1) noch während seiner Berliner Akademiezeit mit der „Mécanique analytique“ ein wissenschaftliches Werk, worin die gesamte theoretische Mechanik aus einem einzigen Prinzip entwickelt wurde.
Joseph Louis Lagrange wurde am 25.1.1736 in Turin geboren. Sein Vater wirkte als Schatzmeister des Büros für öffentliche Arbeiten und Befestigungen in Turin. Als ältester Sproß einer kinderreichen, durch Spekulationen seines Vaters verarmten Familie war ihm die Offizierslaufbahn verbaut. Zunächst studierte er Jura, entdeckte aber schnell sein Interesse und seine Begabung für Physik und Mathematik. So veröffentlichte Lagrange schon 1755/56 mehrere eigenständige mathematische Arbeiten und avancierte 1755 zum Lehrer an der Königlichen Artillerieschule in Turin. Zusammen mit einem Kreis fähiger Studenten, die er dort um sich scharte, gründete Lagrange 1757 die Turiner Akademie der Wissenschaften. Der erste Band der „Mémoires“ dieser Akademie erschien 1759 und enthält bedeutsame Arbeiten aus seiner Feder, die schon die Aufnahme in den Kreis führender Mathematiker und Naturwissenschaftler des 18. Jahrhunderts gerechtfertigt hätten. In seiner Turiner Zeit widmete sich Lagrange hauptsächlich der Theorie der Differentialgleichungen und ihren Anwendungen in der Physik (Variationsrechnung) sowie der Himmelsmechanik. Zur Vollendung der klassischen Variationsrechnung schrieb ihm damals Leonhard Euler (1707-1783): „Ihre Lösung des isoperimetrischen Problems (= ein Problem der Variationsrechnung – d. Verf.) lässt nichts zu wünschen übrig, und ich freue mich, dass dieser Gegenstand, mit dem ich mich seit den ersten Anfängen beschäftigt habe, durch Sie zu einem so hohen Grad der Vollendung gebracht ist“. Heute beispielsweise dient der von Lagrange entwickelte Variationskalkül der mathematischen Formulierung der Grundgleichungen der Methode der Finiten Elemente. Stets verfolgte Lagrange das Ziel, „das Vorurteil derjenigen zu bekämpfen, die meinten, dass Mathematik niemals zu wahren Erkenntnissen in der Physik einen Beitrag leisten könne“. Diesem Diktum blieb Lagrange Zeit seines Lebens treu.
Auf Eulers Vorschlag wird Lagrange 1757 korrespondierendes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Aber damit nicht genug: Als der große Euler, zerstritten mit Friedrich II., kraft dessen gnädiger Erlaubnis 1766 Berlin via St. Petersburg verlassen darf, ruft der König auf Rat Jean le Rond d’Alemberts (1717-1783) den 30jährigen Lagrange mit der bescheidenen Begründung nach Berlin, „es sei notwendig, dass der grösste Mathematiker von Europa in der Umgebung des grössten Königs leben sollte“. Allein, der „grösste Mathematiker von Europa“ fand bei 1500 Talern Jahressalär mehr Gefallen daran, wissenschaftliche Studien zu betreiben, als im Dunstkreis seines Gönners über Gott und die Welt zu parlieren. Stattdessen veröffentlichte der „Philosoph ohne Lärm“ (Friedrich II. über Lagrange) während seiner Berliner Zeit über 50 umfangreiche Abhandlungen auf den Gebieten der Mathematik, Mechanik und Astronomie in den Jahresbänden der Berliner Akademie. Das nach dem Tode Friedrich II. (1786) um sich greifende orthodoxe und wissenschaftsfeindliche Klima zwingt Lagrange zur Niederlegung seines Amtes. Erst auf sein Versprechen, weitere Abhandlungen für die Königliche Akademie der Wissenschaften abzufassen, erhält er vom unbedeutenden Nachfolger Friedrich II. die Bestätigung seiner Entlassung. So konnte Lagrange einer Einladung Ludwig XVI. als Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften folgen und ließ sich 1787 in Paris nieder.
Dort suchte er einen Verleger für sein in Berlin erarbeitetes Manuskript über die analytische Mechanik. Es fand sich kein Verleger! Schließlich nahm sich ein gewisser Monsieur Desaint des Manuskriptes an, ließ es aber nur unter der Bedingung drucken, dass Lagrange die nach Ablauf einer festgelegten Zeit nicht verkauften Exemplare auf seine Kosten erwerben sollte. Lagrange ließ sich auf diesen Handel ein. Mit Hilfe von Adrien-Marie Legendre (1752-1833) erschien das Manuskript 1788 dann doch unter dem Titel „Mécanique analytique“. In diesem epochemachenden Werk leitete Lagrange die gesamte Mechanik aus einem einzigen Prinzip ab: dem Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten (Bild 2). Für den Fall der Statik wies er nach, dass dieses Prinzip dem Hebelgesetz und auch dem Parallelogramm der Kräfte äquivalent ist (Bild 3). So vollendete Lagrange die Statik im Sinne des Gleichgewichts der Körper auf der Ebene der theoretischen Mechanik nach logischer Seite.
Schon in der letzten Phase seiner Berliner Zeit litt Lagrange offensichtlich unter dem Burnout-Syndrom, das sich durch die Suche nach einem Verleger noch verschärfte. Als sein Jahrhundertwerk 1788 erschien, ließ er es ungeöffnet liegen. Lagrange widmete sich religionswissenschaftlichen und metaphysischen Themen. Nach Christoph J. Scriba bewirkte erst die französische Revolution eine Veränderung im Leben von Lagrange: Er arbeitete in verschiedenen neu gegründeten Institutionen mit. So nahm er eine führende Rolle bei der Aufstellung des metrischen Maß- und Gewichtssystems ein. 1795 wurde Lagrange Professor an der École Normale und zwei Jahre später an der École Polytechnique, wo er Vorlesungen über Infinitesimalrechnung und ihre Anwendungen hielt. Frucht seiner Lehrtätigkeit waren die Bücher „Théorie des fonctions analytiques“ (1797) und „Leçons sur le calcul des fonctions“ (1799). Gleichwohl sollte Lagrange die axiomatische Begründung der Infinitesimalrechnung nicht gelingen.
Lagrange starb am 10.4.1813 hochgeehrt in Paris und wurde drei Tage später im Panthéon (Bild 4) beigesetzt. In seiner Grabrede sagte Pierre Simon Laplace (1749-1827), Lagrange habe – wie Isaac Newton – „jene höchste Kunst in glücklichstem Maße besessen, die allgemeinen Prinzipien zu entdecken, welche das eigentliche Wesen der Wissenschaft ausmachen“.
Gut ein Jahrhundert später sollte sich Georg Hamel (1877-1954) über die Bedeutung von Lagranges „Mécanique analytique“ für die Mechanik wie folgt äußern: „Was die umfassende Anlage ihres Baues angeht (…) ist sie noch kaum ausgeschöpft“. Wie wahr! Als Klassiker der Mathematik und theoretischen Mechanik wirkt Lagranges Werk auf den heutigen Leser wie auf Goethe: „Gründlich, durchsichtig, umsichtig, rein, klar, anmutig, ja elegant“ – mathematische Eleganz par exellence.
Bildquellen:
Bild 1: Clifford A. Truesdell: Essays in the History of Mechanics, Berlin/Heidelberg/New York: Springer-Verlag 1968, S. 130.
Bild 2: Clifford A. Truesdell: Essays in the History of Mechanics, Berlin/Heidelberg/New York: Springer-Verlag 1968, S. 174.
Bild 3: Karl-Eugen Kurrer: The History of the Theory of Structures. From Arch Analysis to Computational Mechanics, Berlin: Ernst & Sohn 2008, S. 45.
Bild 4: Jacques Mossot/Structurae
Literatur:
Truesdell, Clifford A.: Essays in the History of Mechanics. Berlin/Heidelberg/New York: Springer-Verlag 1968.
Neumann, Olaf: Lagrange, Joseph-Louis, in: Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, 2. Band, hrsgn. v. Dieter Hoffmann, Hubert Laitko u. Staffan Müller-Wille unter Mitarb. v. Ilse Jahn, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2007, S. 356-357.
Scriba, Christoph J.: Lagrange, Joseph Louis de, in: Grosse Naturwissenschaftler. Biographisches Lexikon, hrsgn. v. Fritz Krafft, Düsseldorf: VDI-Verlag 1986, S. 208-209.
Kurrer, Karl-Eugen: The History of the Theory of Structures. From Arch Analysis to Computational Mechanics: Berlin: Ernst & Sohn 2008, S. 45.
Autor dieses Beitrages:
Dr.-Ing. Karl-Eugen Kurrer, Wilhelm Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Rotherstr. 21, 10245 Berlin
Chefredakteur „Stahlbau“, Editor-in-chief „Steel Construction – Design and Research“