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Vermischtes

Auf Schienen durch Genf

Die neue Bahnstrecke CEVA wurde im Dezember 2019 nach rund achtjähriger Bauzeit eröffnet. Sie durchquert die Stadt und verbindet den Hauptbahnhof von Genf mit dem Regionalbahnhof von Annemasse südöstlich des Zentrums. Jean Nouvel gestaltete die fünf neuen Stationen. Man leistete sich einige Extravaganzen.

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CEVA lässt den «Léman Express» rollen und verhilft der Rhonestadt zu einer vollwertigen S-Bahn. Die Abkürzung steht für Cornavin, Eaux Vives und Annemasse. Der 1858 eröffnete Hauptbahnhof Cornavin befindet sich über dem rechten See- und Flussufer. Von Lausanne her kommend, verläuft die Hauptlinie durch ihn tangential am Stadtkern vorbei in Richtung Lyon. 1888 wurde im linksufrigen Quartier Eaux Vives ein kleiner Sackbahnhof eingeweiht, von wo Züge ins französische Annemasse fuhren, einem regionalen Bahnknotenpunkt für Hochsavoyen. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand direkt unterhalb der Mündung des Flusses Arve in die Rhone der Pont de la Jonction. Von der Hauptlinie nach Lyon biegt seither ein Gleispaar nach Süden ab, durchquert nach der Brücke einen Tunnel und erreicht das Gleisfeld in der Ebene von La Praille, auf dem Gemeindegebiet von Lancy. Hier wurden in der Folge Genfs Terminals für den Güterverkehr und ein Zollfreilager eingerichtet.

Für die neue Durchmesserlinie musste eine Verbindung zwischen La Praille und dem Bahnhof Eaux Vives geschaffen werden. Dieser «missing Link» erforderte schwierige Tunnelarbeiten und eine Brücke über die Arve. Entlang der CEVA entstanden fünf neue Bahnhöfe: Lancy-Pont Rouge und Lancy-Bachet am Anfang und dem Ende von La Praille. Die zweitgenannte Station ist gleichzeitig Tunnelportal. Es folgt nach der Arvequerung Genève-Champel, wo die Gleise 25 Meter unterhalb des Strassenniveaus liegen. Genève-Eaux Vives ist eine vollkommen neue Anlage, welche den einstigen Sackbahnhof ersetzt; die Linie bleibt unter dem Boden, die frühere Trasse ist nun ein Veloweg. Diese Situation prägt den Halt in der Vorortsgemeinde Chêne-Bourg. Das schmucke alte Stationsgebäude blieb erhalten und wurde in einem aufwendigen Verfahren neben den Abgängen zu den Gleisen etwas zur Seite geschoben. Erst nach der Landesgrenze, kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof Annemasse, tauchen die Gleise aus dem Erdreich und leiten ins bestehende Schienensystem über

Die Gestaltung der fünf Stationen wurde dem Büro des Stararchitekten Jean Nouvel aus Paris übertragen. Es gewann 2001 den dafür ausgeschriebenen Architekturwettbewerb. Seine Gestaltung scheint in der Tradition der französischen «grands travaux» zu stehen; die Bahnsteige, Aufgänge und Hallenkonstruktionen sind gross dimensionierte Repräsentativbauten mit prägnanten Symmetrieachsen. Am Tag der Besichtigung im August 2021 wirkten sie leer, überdimensioniert und etwas verloren. Die vier unterirdischen Stationen werden über grosse Glasbodenfelder in den Zwischengeschossen und den darüber aufragenden verglasten Stahlkonstruktionen mit Tageslicht versorgt. Wiederkehrendes Gestaltungselement sind die «briques de verre», vom Architekten auch «millefeuille» genannt, ein mit Stahl gerahmtes Feld aus gerastertem Prismenglas, welche den Hintergrund verpixeln. Diese Glaselemente befinden sich sowohl an der Grenze zum Aussenraum als auch in der Verkleidung der roh belassenen, hinterleuchteten Stationswänden, welche die geologischen Formationen des Untergrundes erkennen lassen. Die Wirkung ist im Zusammenspiel mit den dunkeln Terrazzoböden, den Glasböden und den unterschiedlich Sichtbetonoberflächen jene von einer spröden und dennoch fast opulenten Gediegenheit. Die mit den Renderings des Architekturbüros in Aussicht gestellte Leichtigkeit des «millefeuille»-Effekts wirkt in der Realität schwer und solide.

Vier der fünf Stationen sind für Genf Entwicklungsschwerpunkte, an denen heute gebaut wird: Bei Lancy-Pont Rouge rückt das Wohngebiet nun in die Ebene von La Praille vor, in Lancy-Bachet ist neben einer grossen Stationsanlage für die Strassenbahn und dem Veloparking auch ein hübscher, kleiner Park entstanden. Er wartet noch darauf, benutzt zu werden. Der Bahnhof Eaux Vives mit seiner Einkaufspassage ist flankiert von neuen Wohnbauten und dem neuen Theater für die Comédie de Genève des Architekturbüros FRES aus Paris, ein seitlich völlig verglaster Gebäudezug mit unterschiedlichen Höhen, der entfernt an eine Bahnkomposition erinnert.

Auf den nüchternen Tagesreisenden aus der Zwinglistadt Zürich wirkte einiges an der CEVA etwas zu grandios für die Calvinstadt. Besonders bei der Station Champel, einem gigantischen Tageslichtbrunnen-Palast inmitten eines fertig gebauten Wohnquartiers: Riesige Aufgänge mit gegenläufigen gekrümmten Treppen und abschliessenden Freitreppen-Kaskaden könnten tausende von Reisenden aufs Mal bewältigen. Wann sollen diese Massen je hier auftauchen? Bei Basketballspielen? Die Symmetrie ist so prägnant und die Signaletik so diskret, dass der Besucher den 300 Meter langen Tunnel von der grossen Glasboden-Zwischenebene zum Eingang des Universitätsspitals HUG glatt verpasste. Der Durchstich ist jenseits aller Achsen pragmatisch platziert und passt nicht ins architektonische Konzept. Angesichts der Grandiosität erinnert man sich plötzlich daran, dass die jenseits der Arve gelegene Vorstadt Carouge nach wie vor über keinen Bahnhof verfügt und von der CEVA ohne Halt umfahren wird.

Extravagant mutet auch die Brücke über die Arve an, für die ebenfalls ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde. Gewonnen hat ihn SD ingénierie, Genf, BMS architectes, Carouge, und Walther Nossek paysagiste, Trionex. Die Stahlfachwerk-Konstruktion, offiziell «Pont des Artisanes» (Brücke der Handwerkerinnen) getauft, wurde vollständig mit dreieckigen Glasscheiben verkleidet, die sich nachts hinterleuchten lassen. Ein Muster aus Emaille garantiert den Vogelschutz. Die aufwendige Verkleidung wird mit der Lärmreduktion begründet, die Brücke verläuft aber durch weiträumig unbewohntes Gebiet mit teilweise wildem Uferbewuchs und einigen Freizeitanlagen. Von der Westseite führt eine Rampe auf die Überdeckung der Brücke, die als Promenade gestaltet ist. Diese endet jählings und ohne Fortsetzung an der rund 20 Meter hohen, nackten Molassewand der Falaises de Champel. Dieses Kuriosum muss noch erkundet werden.

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Datum 18. August 2021
Autor Dipl. Arch. Manuel Pestalozzi
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