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Interviews

Bezahlbarer Wohnraum für alle und was Karl Valentin damit zu tun hat

Prof. Lamia Messari-Becker

Prof. Lamia Messari-Becker (Foto: Enrico Santifaller)

momentum sprach mit Prof. Lamia Messari-Becker über Wege zur Beschleunigung des Wohnungsbaus.


momentum: Der starke Zustrom von Flüchtlingen hat Schwung in die Wohnungsbaudebatte gebracht. Aber Wohnungsknappheit ist doch kein neues Thema, oder?

Prof. Lamia Messari-Becker: Durch die Flüchtlinge wird der Handlungsbedarf schlagartig höher. Ohne den Respekt vor der Aufgabe zu verlieren, für mehr als eine Million Menschen eine vernünftige Bleibe schnell zu schaffen, es ist bekannt, dass die Wohnknappheit länger existiert. Einerseits haben wir seit 2001 die Energieeinsparverordnung, die den Energiebedarf senkt, aber auch Baukosten erhöht. Andererseits wurde fast zeitgleich die Eigenheimzulage abgeschafft. Dabei haben 18% der Haushalte weniger als 1.300 €, 33% weniger als 2.600 € Nettoeinkommen (Destatis). Die Mietpreissteigerung lag zuletzt bei 8%. Gepaart mit der Nachfrage in Ballungszentren, der Kapazitätenauslastung, den hohen Standards, der Grundstücks- und Rohstoffpreisentwicklung führte all das zum hohen Bedarf an bezahlbaren Wohnraum und auch zu Teuerungen.


Den Bedarf an Wohnungen zu decken, wird keine leichte Aufgabe. Können wir sagen „Wir schaffen das“?

Ja, absolut. Und zwar weil es – bei aller Schwierigkeit – eine strategisch-technische Aufgabe ist. Wem soll das bitte besser gelingen als uns Deutschen, der Ingenieurnation schlechthin? Gleichzeitig wären wir gut beraten, schnell die Leerstand-Potentiale zu nutzen und Vorschriften zu modernisieren. Dies ohne sie gegeneinander auszuspielen, z.B. Energieeffizienzvorschriften gegen Wirtschaftlichkeitsgebot. Wir müssen Standards und Ansprüche im Wohnungsbau überdenken. Und der Wohnungsbau muss wieder Platz in der Sozial-Agenda der Politik bekommen.


Im Zusammenhang mit der Schaffung kostengünstigen Wohnraums ist oft von Überregulierung die Rede. Haben wir tatsächlich eine Überregulierung und wenn ja, in welchen Bereichen?

Wir haben es sowohl mit einem Modernisierungsstau der Vorschriften als auch mit Überregulierungen zu tun. Die Bauvorschriften sind logischerweise starrer als eine Gesellschaft sich entwickelt oder wandelt. Beispielsweise sollte Nachverdichtung gesetzlich implementiert und umgesetzt werden. Die Bebauungspläne sind fortzuschreiben und könnten im Neubau höhere Baudichten vertragen. Das zum einen. Zum anderen ist in den letzten 15 Jahren eine deutliche Übertechnisierung im Wohnungsbau, insbesondere im technischen Ausbau aufgrund energetischer Anforderungen zu erkennen. Im Bereich Schallschutz ist es ähnlich. Ein weiteres Beispiel: Bauherren kämpfen bei innerstädtischen Wohnungsbauvorhaben zunächst mit dem sogenannten Parkplatzschlüssel. Wenn Tiefgaragen notwendig werden, steigen die Baukosten stark.


Aber was wäre hier die Alternative bezüglich der Parkplätze?

Gegenfragen: Könnten die Städte ihre Vorgaben den Mobilitätstrends – z.B. Car-Sharing – anpassen? Und brauchen wir immer eine Tiefgarage oder tut es auch eine Sockelzone mit weniger Aushubkosten? Und wenn ich schon eine Tiefgarage bauen muss, muss sie mechanisch belüftet werden?


Was sind darüber hinaus aus Ihrer Sicht die wesentlichen Kostentreiber?

Bauen ist zu vielfältig, um die Kostentreiber zu identifizieren. Aber einige sind bekannt (n. BMUB/Baukostensenkungskommission): Die Grundstückspreise stiegen in den letzten 15 Jahren um ca. 22%, Rohstoffe um ca. 30%. Wenn wir das Produkt Wohngebäude in seinen Kostenanteilen betrachten, fällt auf, dass die Kosten der technischen Anlagen um mehr als 45% und damit überproportional stiegen. Dagegen stiegen die Kosten der Baukonstruktion um ca. 25% (vgl. Baupreisindex ca. 26%). Hier liegt definitiv ein Problem! Wir haben zudem eine Verschiebung vom Rohbau hin zum Ausbau. Bedenklich ist: Anders als der Rohbau, hat der Ausbau als sekundäre Struktur ohnehin eine begrenzte Lebensdauer und daher Folgekosten im Betrieb.

Die erhöhten Anforderungen erhöhen auch den Planungs- und Koordinationsaufwand, sodass die Baunebenkosten um mehr als 56% stiegen. Auch Planungs- und Bauzeiten verlängern sich. Jeder weiß, dass das am Ende mehr Geld kostet. Das „sich etwas verschiebt“ kannten wir in der Praxis schon. Nun liefert die Baukostensenkungskommission des BMUB auch Zahlen.


Es reduziert sich also auf die Frage Energie- versus Kosteneffizienz?

Nein, wir brauchen beide. Die Frage ist nicht ob sondern wie? Meines Erachtens sollten wir wieder lernen mit mehr Architektur, ingenieurtechnischem Wissen, ganzheitlicher Energiekonzeption und weniger technische Anlagen, eine angemessene Bau- und Wohnqualität zu schaffen. Über Vorschriften der Energieeffizienz kann man inzwischen sicher streiten. Im Bestand sind sie nur bedingt rentabel. Für den Endverbraucher, der mit seinen heutigen Ersparnissen oder Krediten heute wirtschaften muss, greift der Vorteil langfristiger Wirtschaftlichkeit oft nicht. Im Neubau sind sie (noch) meist wirtschaftlich. Übrigens sind nationale Energievorschriften an die Erfüllung der EU-Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden gebunden. Gerade Deutschland dürfte hier seine Hausaufgaben längst erfüllt haben. Auch ist der Fokus auf „Gebäudekante“ energetisch nicht mehr hilfreich. Besser ist der erweiterte Blick und Handlungsraum: Gebäudecluster und Stadträume. Weitere kostenrelevante Entwicklungen sind gesellschaftlich begründet.


Wie meinen Sie das?

Wir wohnen in Deutschland „sehr geräumig“. In den letzten 10 bis 15 Jahren haben wir zwar den Energiebedarf von Gebäuden (kWh pro m² und Jahr) kontinuierlich gesenkt, aber die Wohnfläche pro Person stieg um fast 100%. Inzwischen liegt der Durchschnitt bei 45m² pro Person. Das ist eine Entwicklung, die energetisch de facto ein Nullsummenspiel bedeutet und im Neubau sämtliche Energieeinsparziele wieder vernichtet. Für die Baukosten ist es eine Verdoppelung. Unser Wunsch nach mehr Platz ist eine entscheidende wie teure Angelegenheit.


Brauchen wir die vieldiskutierte Suffizienz zwecks Kostenoptimierung?

Ich will diese Entwicklung nicht werten. Ich will nur deutlich machen, dass unsere Wohnstandards eine große Rolle spielen, was am Ende wie viel kostet. Oft wird mit Suffizienz eine Art „Enthaltung“ suggeriert, aber das ist falsch. In anderen Ländern, auch wirtschaftlich starken und qualitätsbewussten wie den Niederlanden, lebt man auf weniger Quadratmetern. Nicht schlechter, sondern durchdachter, kosten- und energieeffizienter. Wenn man Energie- und Kosteneffizienz unter Berücksichtigung des demographischen Wandels übergeordnet im Blick behalten will, gehört dieser Aspekt miteinkalkuliert.


Sollten bestimmte Regelungen wegen der Flüchtlingssituation abgeschwächt oder zeitweise ausgesetzt werden? Und wenn ja welche?

Nein, nicht deshalb. Sondern weil wir Fehlentwicklungen korrigieren müssen und weil eine moderne Nation ihre Modernisierungsaufgaben angeht. Bezahlbares Wohnen ist allen Bürgern zu ermöglichen. Ich muss an einen Karl Valentin’s Spruch denken: „Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut“. Einige Tabubrüche sind fällig: Kommunen müssen Grundstücke an Wohnungsbauunternehmen mit sozialem Auftrag günstig bis kostenneutral veräußern dürfen. Eine Frage der Gemeindeordnung und der nationalen Wirkung vom EU-Recht. Kein einfaches Unterfangen, aber eines das helfen würde. Kommunale Verfahren zur Baulandvergabe sollten vereinfacht werden. Der Parkplatz-Schlüssel gehört an Mobilitäts-Trends angepasst. Auf Nebenfunktionen wie Keller kann man innerstädtisch verzichten. Sockelzonen sind kostengünstiger als Tiefgaragen, da weniger Erdaushubkosten. Anforderungen gehören modernisiert, so dass eine Übertechnisierung vermieden wird. Die Nachverdichtung muss im Baurecht implementiert werden.


Nachverdichtung in bestehenden Wohngebieten und Bebauungsplänen. Ein schwieriges Thema.

Ich weiß um diesen auch heiklen Aspekt des Baurechtes. Aber es macht unsere Städte und Kommunen, unsere Lebensräume ein Stück zukunftssicherer. Ich glaube, von einer z.B. besseren Ausnutzbarkeit der Grundstücke und einer verdichteten (Infra-)Struktur profitieren am Ende alle Bürger, Eigentümer, Vermieter wie Mieter, Familien wie Singles, Alte wie Junge in den Wohngebieten. In Mischgebieten kann Wohnraum mehr Leben in diese Stadtteile bringen und sie stabilisieren.


Vorschriften sind nur eine Seite der Medaille. Auf welche Weise kann mit technischen Mitteln auf diese Herausforderung eingegangen werden?

Wir müssen mehr in Vorfertigung, Baukastensysteme, Standarisierung mit einfachen Details, Montage- und Austauschfreundlichkeit und in digital vernetzten Prozessen denken. Bauen in Deutschland ist von Individualität geprägt; das Gegenteil ist kosteneffiziente Typisierung. Das gilt es technisch zusammenzubringen. Z.B. ließen Gestaltungselemente, wie die Fassade, Individualität und Vielfalt zu, im Sinne von Architekturqualität und auch Akzeptanz. Das sind nur technische Fragen. Unsere Automobilindustrie mit ihren Baukastensystemen macht es uns doch vor. Weitere Aspekte kostengünstigen Wohnraums sind Kompaktheit, optimierte Grundrisse und Verkehrsflächen, Flächeneffizienz, multifunktionale Räume etc. Bei der energetischen Gestaltung der Gebäudehülle sollten wir technologieoffener agieren. Dämmung muss nicht zwangsläufig Verhüllung bedeuten – im Lande von Goethe und Schiller ist das weder schön noch ökologisch.


Was wäre im planungskulturellen Sinne sinnvoll?

Z.B. würden digital vernetzte Planungs- und Bauprozesse, sobald ausgereift, Zeit sparen und Kollisionen auf der Baustelle reduzieren. Beides sind Synonyme für Baukosten. Planungskulturell kann eine Aufhebung der Trennung zwischen Planungs- und Ausführungsphase kostenreduzierend wirken. Wir alle wissen: Gelingt es, ausführende Firmen frühzeitig einzubinden, wird das Bauen oft günstiger. In Frankreich ist es üblich, bis zur Baugenehmigung die Planung viel weniger detailliert vorzunehmen und die “Ausführungsplanung“ den ausführenden Firmen zu überlassen. Erst sie erstellen Werkpläne, die wiederum von Architekten und Ingenieuren freigegeben werden. Bauen die Franzosen deshalb schlechter? Nein, genauso gut, aber eher schneller, reibungsloser und auch dadurch kosteneffizienter.


Die o.g. Maßnahmen dauern aber – Was wäre schon heute angebracht?

Einiges wird bereits angegangen: Förderung des Systembaus, Aufstockung der Mittel. Der Umgang mit der EnEV-Fortschreibung wird Thema einer Bundeskonferenz im Sommer 2016 sein. Wir sollten zwischen dem sozialen Wohnungsbau als ständige sozialpolitische Aufgabe und den Gemeinschaftsunterkünften für Flüchtlinge als Zwischenlösung für jetzt und heute differenzieren. Letzteres geht einfacher und schneller, aber darf nicht planlos sein. Denn: Wenn wir Energievorgaben planlos aufweichen, sinken zwar die Gebäudeherstellungskosten, die Kommunen blieben dann aber auf höhere Betriebskosten sitzen. Das kann bei der kommunalen Haushaltssituation keiner wollen. Wir müssen lebenszyklusorientiert an die Zeit danach denken. Konkret: Ich könnte mir einen Mindest-Technikstandard vorstellen, der sich bei späterer Umnutzung auch energetisch ausbauen lässt. Dafür ist hohe Montagefreundlichkeit ein Muss. Im Industriebau gibt es hierfür die TGA-Industriestandards. Solche Gemeinschaftsunterkünfte ließen sich später aufgrund ihrer Gebäude- und Grundrisstypologie leichter umnutzen. Sie hätten eine Zukunft.


Reichen aus Ihrer Sicht die kurzfristigen Maßnahmen des BMUB zur Wohnraumförderung?

Der soziale Wohnungsbau war ja die großformatige Antwort auf die Vernichtung von mehr als der Hälfte des vermietbaren Wohnraums im Krieg. Wenn man heute solche Erwartungen hat, dann reicht die Initiative der Mittelaufstockung natürlich nicht aus. Und auch nicht die strikte Verwendung der Ausgleichszahlungen durch die Länder für die Wohnraumförderung. Aber als Teilmaßnahmen sind sie doch gut. Der Wohnungsbau muss durch technologische Lösungen günstiger werden, ohne dabei billig im Sinne von „schlecht“ zu werden. Übrigens kann keine Förderung der Welt die vollkommen entkoppelte und ungesunde Entwicklung von Immobilienpreisen und Baukosten in den Griff bekommen.


Das Thema Wohnungsbau wird uns lange beschäftigen. Ist unser Nachwuchs dafür gut ausgerüstet?

Das sehe ich eher kritisch. Lehrstühle für den Wohnungsbau, einen der wichtigsten Betätigungsfelder für Architekten und Bauingenieure, wurden in den letzten Jahren eher reduziert. Heute ist ein Bachelor-Abschluss möglich, auch ohne sich jemals intensiv mit dem Wohnungsbau auseinander gesetzt zu haben. Wir müssen den Wohnungsbau in der Ausbildung als „Brot-und-Butter-Fach“ begreifen, mehr Kompetenz bei bauphysikalischen, energetischen und anlagentechnischen Fragen vermitteln und die Vernetzung der Fachdisziplinen stärker berücksichtigen.


Frau Professor Messari-Becker, haben Sie vielen Dank für dieses Interview.

 

 

 

 

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Datum 23. Februar 2016
Autor momentum
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