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Rezension, Vermischtes

Boden-Los

Vorwort: Fragen der höchsten Sittlichkeit 1
Romantik aus heutiger Sicht: Sicherlich muss man nicht mit der berühmten – und immer mal wieder lesenswerten – Rede des Häuptlings Tecumseh (Seattle) blankziehen, um sich im Baukontext der Bodenfrage zu stellen. Tecumseh wollte „das Ansinnen des weißen Mannes, unser Land zu kaufen,“ bedenken und fragte: „Aber mein Volk fragt, was denn will der weiße Mann kaufen? Wie kann man den Himmel oder die Wärme der Erde kaufen – oder die Schnelligkeit der Antilope? Wie können wir euch diese Dinge verkaufen – und wie könnt ihr sie kaufen? Wenn wir nicht die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers besitzen – wie könnt ihr sie von uns kaufen? Könnt ihr die Büffel zurückkaufen, wenn der letzte getötet ist?“

Wieso kommt dieses wichtige Buch, als gleichnamiger Katalog zu der Ausstellung „Boden für alle“ wieder aus Wien und nicht etwa aus Berlin? Wer so fragt, kann die Stadt Wien sehr wohl als die mit dem fortgeschrittensten und fortschrittlichsten sozialen Wohnungsbau im Sinn haben, sie aber zugleich als die Metropole mit einem der restriktivsten freien Wohnungsmärkte kennen. Gleichviel hat das Architekturzentrum Wien hier einen gewichtigen, in seiner quietschbunten Ästhetik eventuell eher ein junges Publikum ansprechenden, aber vorbildlich didaktischen Katalog vorgelegt.

 

Stand der Zersiedelung im Rheintal, Luftbild von Dornbirn aus dem Jahr 2017. (© Vorarlberger Nachrichten / Philipp Steurer)

Ende der Allmende
Je nach Betrachtung hat der Band sieben Kapitel. Eine Einleitung bietet u. a. einen hervorragend konzisen und gekonnt kursorisch formulierten historischen Überblick des Wirtschaftswissenschaftlers Gerhard Senft über die Genese des Eigentums an Grund und Boden in Westeuropa samt dessen kolonialen Implikationen. Senft beginnt selbstverständlich mit Rousseau als wahrem Begründer der bürgerlichen Gesellschaft, der in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Diskurs über die Ungleichheit) den Bürger als den erkannte der als erster „ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: ‘dies ist mein’ und Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben.“ (S. 25) Doch weist Senft sogleich darauf hin, dass mit dem Ende der Allmende der von Rousseau angedeutete Kulturbruch sich so kaum markieren lasse, insofern wirtschaftsgeschichtlich betrachtet die Regelung der Landverteilung immer wieder beachtlichen Wechsellagen unterworfen gewesen sei.
Denen geht der Autor von den Griechen zu den Römern, über zahlreiche historische Phasen bis zu „Grund und Boden in der marktregulierten Globalisierung“ auf durchweg aufschlussreiche Weise nach. Dabei lässt sich über die mit weltweiten Fakten üppig gespickten Seiten kaum hinweglesen, wenn Senft konstatiert, dass „die Ernährungskrise der Jahre 2007/08 die Bodenfrage erneut ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit“ rückte. (S. 45) So werde heute trefflich bezweifelt, ob die Ernährungssicherheit der bis Mitte des 21. Jhs. auf 9 bis 10 Mrd. Menschen anwachsenden Weltbevölkerung allein durch Produktionssteigerung zu gewährleisten sei. Welche Lösungen, vor allem welche Umgangsformen die Gesellschaft des 21. Jhs. mit derlei Problemen auch immer entwickeln werde, die Grund-und-Boden-Frage werde sehr vieles entscheiden.

 

In Südkoreas Hauptstadt Seoul wurde 2005 ein 10,9 km langes Stück der Stadtautobahn abgerissen, der darunter befindliche Fluss Cheonggyecheon renaturiert und ein Park geschaffen. (© Sue@Reisephilie (reisephilie.at))

Boden und Joghurt
In einem weiteren Kapitel widmet sich Karoline Mayer der prima vista so banalen wie folgenschweren Frage, warum Boden kein Joghurt sei. Die neoliberale Maxime, derzufolge bodenökonomische Zusammenhänge der Markt regele, lässt sich unstrittig im Vergleich mit Joghurt widerlegen. Essen die Leute mehr Joghurt, fabrizieren Joghurtproduzenten mehr davon. Gerät Joghurt etwa in den Konnex mit Cholesterin, stellen sie weniger her. Was man mithin Markt nenne sei, so die Autorin in einem Zitat Gabriel Brönnimanns (Zürich 2019) auf steigende und sinkende Bodennachfrage nicht recht anwendbar. Die Frage aber, wann und wie Boden zur Ware wurde, illustriert Mayer sehr anschaulich am Beispiel des Magdeburger Erzbischofs Wichmann von Seeburg, der sich im ausgehenden 12. Jh. aktiv am sogenannten mittelalterlichen Städtebau-Boom beteiligte. Sein Finanzierungstrick nannte sich „Renovatio monetarum“ und wurde von ihm, nicht nur, wie weiland üblich, bei Amtsantritt, sondern zweimal im Jahr angewendet: Einzug des gesamten Münzschatzes eines Gebietes, Umprägung und Neuausgabe, wobei jeder im Regelfall gegen 12 alte zehn neue Münzen erhielt. Die Differenz strich der Bischof als Profit mit der Folge ein, dass die Sorge um Geldentwertung in der Bevölkerung in Bauinvestitionen umschlug. Beinahe müßig der Verweis der Autorin auf die Parallele zum heutigen Bauboom (und zur heutigen Bodenversiegelung) im Zuge der Null- bis Minuszinspolitik. (S. 64)

Schöner leben ohne Rendite (SchloR) in der Rappachgasse in Wien Simmering. Die bestehenden Gebäude werden zu einem Kultur-, Werkstätten- und Wohnprojekt umgebaut. Die Finanzierung erfolgt großteils über Direktkredite im habiTAT-Modell. (GABU Heindl Architektur)

 

Investorenfreundlich
Dass sich Geschichte doch wiederholen könnte, mindestens aber einige ihrer Muster, zeigt die Gründerzeit, mit der „nicht zufällig der Bedarf an Wohnungen ins Gigantische stieg, indem Boden- und Bauspekulation höchste Blüten trieben.“ (S.65) Was damals zu Zeiten der frühen Industrialisierung die chaotisch entstehenden Zinskasernen waren, sind in der heute zu erlebenden, sich als postindustriell ankündigenden Neo-Gründerzeit die Metastasen bildenden, durchgerasterten Investorenkomplexe von der Innenstadt bis zum zersiedelten Stadtrand. Investorenfreundlich war die Bauordnung, das versäumt Mayer nicht zu betonen, unterdessen aber auch schon in der ersten Gründerzeit. Sie ließ eine Ausnutzbarkeit der Bauplätze von 85 % zu und generierte damit „desaströse hygienische Zustände“ (S. 67). Was zu allerlei „Reförmchen“ führte, ergab 1930 eine revolutionierte Wiener Bauordnung: „U. a. forderte sie einen Lichteinfall von 45° für jeden(!) Aufenthaltsraum, führte zu einer inneren Baufluchtlinie, die die Entstehung von Hofanlagen gewährleistete und setzte generell großzügigere Belichtung wie Belüftung durch. (ebd.)
In den 60er und 70er Jahren des letzten Jhs., darauf wies zuvor Laura Weißmüller in der Süddeutschen vom 2./3.9.2017 hin, wurde die Bodenfrage zuletzt im deutschsprachigen Raum intensiver diskutiert. Der des Revoluzzerhaften schwerlich zu verdächtigende Hans-Jochen Vogel (u. a. einmal Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau) kritisierte 1972 (damals grade nicht mehr Münchner Oberbürgermeister) in der Neuen Juristischen Wochenschrift unter der Überschrift „Bodenrecht und Stadtentwicklung“ dass „die rasch ansteigenden Bodenwertzuwächse und die ebenso rasch ansteigenden Bodenrentenerträge sich in wenigen Händen konzentrieren.“ (SZ 2./3.9. 2017, S.17) Welche Folgen derlei Profitprinzip für alle Stadtentwicklung zeitigt, hat, das zitiert Weißmüller trefflich, der notorische britische Premier mit der Zigarre schon griffig gefasst: „Der Bodeneigentümer trägt nicht zu der Prozessen bei, die seinen Reichtum mehren.“ (ebd.) Auch die Sicht auf Winston Leonard Spencer-Churchill dürfte kaum von der auf Hans-Jochen Vogel divergieren … Aber auch Mayer hat nach ähnlichen Zitaten im Wiener Kontext bloß zu resümieren: „Bald danach verschwand die Bodenfrage, nicht zuletzt aufgrund des Siegeszuges der neoliberalen Wirtschaftstheorie, für lange Zeit völlig aus dem politischen Diskurs.“ (S. 67) Bliebe allenfalls und hoffnungsfroh anzufügen, dass Bücher wie das hier besprochene ihren Beitrag zur Beendigung dieses für alle Wohnraumbedürftigen fatalen Zustandes leisten mögen.

 

In Basel leistet die Stiftung Habitat in der Quartiersentwicklung Pionierarbeit. Im Ostteil des Erlenmatt Quartiers verfolgt sie die Ziele, Boden der Spekulation zu entziehen, leistbaren Wohnraum zu schaffen, Wohnen, Arbeiten und Gemeinschaftsaktivitäten im Quartier zu bündeln sowie eigene Energie zu produzieren. (© Lengsfeld, designkonzepte GmbH / Basel)

Leittragende und Profiteure
Das Buch (der Katalog) bietet dann eine fast unüberschaubare, nicht nur kursorische Fülle an Aspekten und Gründen für das aktuell wie ehedem brisanteste aller Bauthemen. Von Margaret Thatchers mit den beginnenden 1970er Jahren via „Right to Buy scheme“ ausgehebeltem und zügig privatisiertem Sozialwohnungsbau bis zum in Saskia Sassens Buch „Expulsions, Brutality and Complexity in the wealth of nations“ mustergültig beschriebenen Abwenden der Hochfinanz von Derivaten aufgrund der Finanzkrise von 2008. In Zeiten der Niedrigzins-Politik orientierte man sich nun an sicheren Anlageformen in Gestalt von „asset backed investments“ – durch Vermögenswerte gesicherte Investitionen, für welche sich Immobilien besonders gut eignen; wobei weniger die Immobilie selbst als das Finanzprodukt dahinter gehandelt wird. (S. 68)
Karoline Mayer unterläuft in ihrem umsichtigen Kapitel auch nicht der Fehler der bloß wolhfeilen Neoliberalismus-Kritik, wenn sie – gewiss stellvertretend für sehr viele – unter der Überschrift „Wir, die Mietenhaie“, die so kurze wie fatale Geschichte der Hamburger Wohnungs-Mieterin Kathrin Schwemm erzählt, die mit allem Recht über jährlich steigende Mieten klagt. „Ihr Mietshaus wurde vor einiger Zeit von einer Versicherungsgruppe gekauft, die nun versucht, für ihre Anleger:innen die besten Ergebnisse zu erzielen.“ – Leidtragende und Profiteurin in Personalunion: Frau Schwemm hat bei dieser Versicherungsgruppe zwei Renten- sowie eine private Krankenversicherung. (S. 71)

 

Baulandüberhang am Beispiel der Gemeinde Götzis in Vorarlberg. Die rot markierten Flächen stellen die Bauflächenreserven von Götzis dar – insgesamt 133 ha. (© Nicole Rodlsberger und Johannes Sebastian Vilanek, aus Masterarbeit: Unter der Bahn)

De-Urbanisierung und Kapitalspeicher
Mehr denn ein bloßes Streiflicht wirft Saskia Sassen im Kapitel „Stadt – ein Gemeingut?“ auf die Folgen von derlei neoliberalen Verweisungszusammenhängen für die Stadtentwicklung. „Über Jahrhunderte“ so Sassen „konnte sich in Städten auch die Basarkultur entwickeln; Angehörige verschiedener Religionen trieben miteinander Handel und begründeten Traditionen, die mögliche Unterschiede überbrückten.“ Am Ende des Arbeitstages begaben sich die verschiedenen ethnischen oder religiösen Gruppen dann in ihre Milieus zurück und betrieben das, wovon der Katholizismus unter Bismarcks Kulturkampf lernte: Milieu-Bildung, aus der sich mit Sassen die zentrale Bedeutung von Handel und Urbanität für Städte ergab. (S. 86)
Die Autorin sieht diese jahrhundertealten Fähigkeiten von Städten heute stark gefährdet. Würden sie doch in immer mehr großen Städten im buchstäblichen wie metaphorischen Sinne zerstört. Wörtlich: „Was früher Kriege, Macht und Zeit überdauern konnte, wird heute durch neue Formen der Provatisierung des städtischen Raums – nämlich die rasante Ausbreitung massiver Gebäudekomplexe – zerstört.“ Sassen macht hier Trends zu einer „beunruhigenden, wenn auch nur teilweisen, De-Urbanisierung“ aus. „Sind wir“, fragt sie, „im Extremfall Zeuge einer Neupositionierung der Stadt als wertvolle Handelsware – und vielleicht sogar einer Finanzialisierung dieser Ware?“ Wie in historischer Betrachtung, resümiert sie, so befänden sich die meisten Gebäude einer Stadt auch heute in Privatbesitz. Freilich mit einem entscheidenden, nach wie vor zu wenig untersuchten Unterschied: „Die meisten Unternehmenskäufe von Immobilien haben eine schwache Nutzungsfunktion.“ Der eigentliche Wert des Erwerbs liege zunehmend im Eigentum oder in der Kontrolle über das Gebäude selbst und weniger in der Art und Weise seiner Nutzung – „die Gebäude fungieren als eine Art Kapitalspeicher“. (alle Zit. ebd.) Gebäude mit dieser Funktion führen zu einem weiteren dramatischen Effekt in der Stadtentwicklung: „die Verdrängung der Bevölkerung an die ‘Peripherie’. Die sich zu einer nicht eindeutigen Zone mit oft niedriggeschossigen, minderwertigen Wohnbauten ausdehnte. (S. 87) Im Extremfall bringt das außergewöhnlich dichte Stadtränder und leer stehende, nicht ausreichend genutzte Stadtvillen hervor. (ebd.)

 

Über ein Jahrhundert lang versorgte die ENCI-Kalkgrube die Niederlande mit Kalk für die Zementerzeugung. 2018 wurde die künstliche Landschaft in ein beeindruckendes Naturreservat verwandelt, das Raum für Naherholung, seltene Pflanzen und Vögel bietet. (© Rademacher / de Vries Architects)

Verdichtung ist nicht alles
Die Autorin sieht sich jedoch auch vor dem Umkehrschluss gefeit, indem sie betont, das Dichte für eine Stadt eine Rolle spiele, aber nicht ausschlaggebend“ sei. Der Schlüssel liegt für sie in der Stadt als komplexes, aber unvollständiges System, welchletzteres der Verfasser dieser Zeilen gern zu einem „unsystematischen – letztlich sprachlichen – Gebilde“ korrigierte, insofern jedes System einen Leben nivellierenden (Stadt)Plan ergäbe. Gleichwohl erkennt Sassen in dieser „Mischung die Fähigkeit von Städten, weitaus mächtigere, aber vollständig formalisierte (tatsächliche, der Verf.) Systeme in Raum und Zeit zu überleben, von Großkonzernen bis hin zu nationalen Regierungen.“

Estamos presentes
Möglichkeiten der Machtlosen (oder etwa der Landlosen-Bewegung Brasiliens, der MST (Movimento dos Sem Terra)) sieht die Autorin hier „in dieser Kombination aus Komplexität und Unvollständigkeit „Wir sind hier“ und „Dies ist auch unsere Stadt“ zu bekräftigen. Oder wie es in der legendären Erklärung der kämpfenden Armen in lateinamerikanischen Städten heiße: „Estamos presentes“. Sassen formuliert hier ihr Prinzip Hoffnung des Städtebaus, wenn sie schreibt, „die Machtlosen“ hätten „ihre kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Spuren zu einem Großteil in Städten hinterlassen – wenn auch meist in ihren Vierteln.“ Letztlich könne sich freilich jede dieser Spuren als „ethnische Gastronomie“, Musik, Therapien und vieles mehr auf ein größeres städtisches Gebiet ausweiten. Weniger latent messianisch als zutreffend stellt sie dagegen den Büropark, in dem nichts von alledem geschehen könne, so dicht er auch sein möge; „deenn Büroparks sind privat kontrollierte Räume, in denen Niedriglohnarbeiter:innen zwar arbeiten, aber nichts herstellen“ könnten. Sassens resümierender Ausblick hat dann mit Hoffnung nur noch wenig im Sinn. Die „Möglichkeit der Komplexität in der eigenen Machtlosigkeit – die Fähigkeit, eine Geschichte, eine Kultur und so viel mehr zu schaffen – ist heute durch den sprunghaften Anstieg von Unternehmensneuentwicklungen im großen Stil und die Privatisierung des städtischen Raums in Gefahr“ (alle Zit. S. 91/92) – wenn nicht schon erfolgreich unterminiert, ließe sich mit Blick auf manche – besonders etwa britische – Innenstadt anfügen.
Der sich anschließende Teil „Gutes auf den Boden bringen“ zeigt mögliche Veränderungen von „oben nach unten“ auf und stellt Initiativen und Projekte zu einer verantwortungsbewussten Raumordnung jenseits von Nachhaltigkeit als Buzzword vor.

 

The Landmatrix versucht, Transparenz in den globalen Landhandel zu bringen. Aufnahme eines Sojafelds im Nacala-Korridor, Mosambik, einem der wichtigsten Zielgebiete für internationale landwirtschaftliche Großinvestitionen in Afrika. (© Foto: Julie Zähringer, 2016)

Raumfraß und Klimaschutz
Im Teil „Wer plant die Raumplanung“ fordert Gerlind Weber „Schluss mit dem Raumfraß“ und umreisst den nicht nur für Österreich aktuellen Zusammenhang aus Pandemie und Ernährungssouveränität, die sie „durch die starke Verbauung bester landwirtschaftlicher Böden und die rücksichtslose Zerschneidung der agrarischen Flur durch Siedlungserweiterungen und Straßenbau“ verunmöglicht sieht. Dass dies nicht etwa das Lob der Scholle besingt, wird spätestens da klar, wo Weber  den Zusammenhang zum Klimaschutz herstellt, der sich „nicht einmal bis zu den Verfasser:innen von Klimaschutzprogrammen“ durchgesprochen habe, in welchen keinerlei Bezug zur Raumordnung ausfindig zu machen sei.
In kontrastiver Abhebung vom Klimaschutz als big business in Sachen E-Mobilität und erneuerbaren Energien verweist Weber etwa auf einen Vortrag Hans Jürgen Salmhofers vom 26.6.2019 in Wien, in dem dieser darlegt, dass durch technologische Lösungen allenfalls die Hälfte aller bis 2030 erforderlichen CO2-Reduktionen erwirkt werden könne. Für die andere Hälfte, die durch Verhaltens- und Entscheidungsänderungen erzielt werden müsse, hebt Weber hier auf die Einsicht ab, „dass der unbebaute Boden nach den Weltmeeren der zweitwichtigste Treibhausgasspeicher im globalen Stoffkreislauf“ sei und nennt auch die Ursachen dafür, dass durch Versiegelung im Zuge von Hoch- wie Tiefbau wichtige Klimaschutzgunktionen nicht nur zerstört, sondern in ihr Gegenteil verkehrt werden. Dabei sind Artenvielfalt und Naturschutz hier noch nicht einmal in ihrer Bedeutung für jede künftige Bodenordnung so angesprochen, wie Weber das in ihrem Aufsatz tut. – „Data is the new oil“ ist ein schon etwas überzitiert ermatteter Slogan. Weber fordert, dass der Slogan „Boden ist das Öl der Zukunft!“ als Weckruf an die Gesellschaft verstanden werde und nicht zum Schlachtruf der Spekulant:innen“ verkomme. (alle Zit. S. 140 – 143)
Die weiteren, hier nicht mehr ausführlicher behandelten Teile des Buches spüren weiterhin zukunftsträchtigen Projekten, neuen Wohnformen und ökologisch sinnvollen Baulösungen nach. Alles in allem nicht nur eine ungemein anregende bis manche Perspektive in Frage stellende Lektüre, sondern ein Must für jeden Ingenieur, Planer, Architekten und an Stadt und deren Entwicklung interessierten Laien.

Nachwort: Fragen der höchsten Sittlichkeit 2
In der „Unwirtlickeit unserer Städte“ zitiert Alexander Mitscherlich einen anderen, gewisslich nicht als Sozialrevoluzzer verschrieenen Politiker, den ersten bundesrepublikanischen Kanzler Konrad Adenauer mit dem schier erschröcklichen Worte: „Wir leiden nach meiner tiefsten Überzeugung in der Hauptsache in unserem Volk an der falschen Bodenpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Ich betrachte diese falsche Bodenpolitik als die Hauptquelle aller physischen und psychischen Entartungserscheinungen, unter denen wir leiden.“ Ließe ich hier von der mehr als leicht angebräunten Begrifflickeit der „Entartung“  absehen, staunte man nicht schlecht über des Kölner Ex-Bürgermeisters Qunitessenz: „Die bodenreformerischen Fragen sind nach meiner Überzeugung Fragen der höchsten Sittlichkeit.“ Mitscherlich kommentiert, man sehe, „vor den machtvollen Tabus kapituliert die ‘tiefste Überzeugung’ der Politiker“; denn was sei in der Ära Adenauer zu Bodenreformen geschehen? Nichts. (Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, S. 21) Nichts ist freilich nicht viel – und: bis heute hierzulande nicht mehr geworden.

Boden für alle, Hrsg. Angelika Fitz, Karoline Mayer, Katharina Ritter und Architekturzentrum Wien, 1. Auflage, 2020, Broschur, 320 Seiten, 198 farbige und 2 sw Abbildungen und Grafiken, 16,5 x 24 cm, ISBN 978-3-03860-225-5, CHF 45,-; € 38,-

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