Projekte
Der wahr gewordene Traum eines verrückten Galliers
Guédelon – das weltweit größte, erfolgreichste und langwierigste Bauprojekt zur Experimentellen Archäologie
Wäre er Engländer, hätte man ihn milde belächelt, sich über seinen Spleen lustig gemacht, und ihn in die interessante, gut gefüllte Schublade der harmlosen Bekloppten gesteckt.
Als Franzose und damit der hehren Kultur verpflichtet, ist das ganz anders: Wer solche Pläne hat wie Michel Guyot, der ist ganz unzweifelhaft verrückt, total plemplem! Denn welcher normale Erwachsene käme schon auf die abenteuerliche Kleinjungenidee, sich eine Ritterburg bauen zu lassen? Nicht wie bayrisch Ludwig sein Neuschwanstein per Gusto und mit den modernsten bautechnischen Methoden, sondern nach archäologisch akribischen Plänen des 13. Jahrhunderts? Dem nicht genug, sondern das alles nicht mit Bagger und Beton, sondern ausschließlich mit den jeweiligen Mitteln und Entwicklungen des exakten Baujahrs? Das freilich ist nicht nur komplett unrealistisch, sondern wirklich nichts anderes als verrückt.
Diesen Stempel des Verrückten wird er bis heute nicht los. Doch er trägt ihn nicht nur mit Humor, sondern pflegt ihn gar wie einen Orden. Denn Michel Guyot hat alle seine Spötter besiegt.
Wo liegt Guédelon?
Nur etwa 1,5 Autostunden von Paris entfernt: Von der Autobahn A6 Paris–Dijon abfahren, durch Auxerre und der Landschaft Collines de Puisaye, Département l‘Yonne, entlang der Landstraßen D965 und D955 etwa 20 km nach Südwesten
Das Besondere
Doch was bedeutet das, “mit den Mitteln der jeweiligen Zeit”?
Die Vergangenheit ist Land, das nicht wieder betreten, sondern nur noch erinnert oder rekonstruiert werden kann. Historische Gebäude dagegen wirken oft wie eine Zeitmaschine, die den menschlichen Geist mit sich führen können. Will man ein derartiges Gebäude dagegen neu errichten, gibt es in der Tat mehrere Wege, dieses zu bewerkstelligen.
Der leichteste Weg ist es, moderne Bauverfahren zu benutzen und den Gebäuden einen historischen Anschein zu geben, wie beispielsweise bei den in vielen deutschen Städten anzutreffenden neoklassizistischen Kirchen oder den gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstellten bzw. wiedererrichteten Burgen wie die Ortenburg bei Offenburg (Baden) oder die Hochkönigsburg im Elsaß.
Der Mittelweg wurde bei der Dresdener Frauenkirche genommen, für deren Neuaufbau neben den Originalplänen einiges Originalmaterial und aus Originalsteinbrüchen stammendes Baumaterial verwendet wurde.
Der schwierigste Weg, quasi die Königsdisziplin, erscheint selbst Fachleuten bei einem derartigen Projekt wie Guédelon ziemlich … nunja, anspruchsvoll. Es bedeutet nichts anderes als perfekte Authentizität, also dass man quasi selbst per Zeitmaschine in die Hunderte von Jahren zurückliegende Bauzeit des Gebäudes versetzt oder -rückt wird und ausschließlich Methoden, Materialien und Werkzeuge anwendet, die eben zu dieser Zeit bekannt waren. Sofern diese nicht zur Hand sind, müssen sie neu hergestellt werden – ebenfalls mit den Mitteln der jeweiligen Zeit. Dies bedeutet unter Umständen, eigene Forschungs- und Produktionskapazitäten zu generieren.
Zur Wahrung der Authentizität muss jeder einzelne Arbeitsschritt lange vor seiner Ausführung prinzipiell bereits bekannt sein.
Was bedeutet der Name “Guédelon”?Das ist ein kleines Rätsel, das man noch nicht gelöst hat. Der Name des Gewanns klingt wie “le Gué du Lon” – die Furt des Lon, versichert die Pressesprecherin Delphine Bourselot. Aber sicher ist man sich da nicht. – Sprachen verändern, Worte verschleifen sich über die Zeit. Blättert man demnach in etymologischen Kladden, findet man das “Guède”, das Waid bzw. Färberkraut; eine Pflanze, die Jahrtausende lang zum Färben von Textilien verwendet wurde. Hatte man sie hier mal angebaut? Absolut möglich. Doch was ist mit dem “Guerdon”, der Gegengabe? Es ist ebenso möglich, dass zu namensgebender Zeit dieses Stück Land vom Beschenkten so genannt wurde. Und dass nach einigen Generationen die Herkunft des Wortes unwichtig wurde. Die genaue Bedeutung des Namens Guédelon bleibt somit noch ungelöst …
Das Team und seine Aufgabe
Michel Guyot ist nicht dafür geschaffen, Angestellter sein zu können; er fühlt sich immer nur am Steuer wohl. Zunächst hatte er einige – darunter als unrettbar verschrieene – Burgen und Schlösser restauriert. Doch sein Jugendtraum war, eine Burg aus dem 13. Jahrhundert nicht etwa wieder herzustellen, sondern komplett neu zu errichten. Ende der 1990er Jahre scharte er eine Handvoll Leute um sich, die mit ihm diese Idee realisieren wollten. Ausschließlich starke Persönlichkeiten, die den anfänglichen Anfeindungen, einer Spinnerei hinterher zu jagen, gewachsen waren.
Maryline Martin war die Erste: Sie kehrte eigentlich aus einem Bürojob in Paris in die Puysaie zurück, um in einem Projekt Arbeitslosen zurück in die Arbeitswelt zu helfen. Weder hatte sie eine Leidenschaft für Burgen, noch für deren Bau – doch sie kann mit Menschen umgehen und Überzeugungsarbeit leisten. Dann traf sie Guyot. Als die beiden sich einigten, und sogar Zustimmung bei der Départements-Verwaltung erhielten, beschied Pierre Lescure, der Leiter des französischen Fernsehsenders Canal+ eindeutig: “Die sind verrückt. Die sind wirklich verrückt!”
Guyot und sein Team setzte sich gegen sämtliche Besserwisser durch, um Financiers, wissenschaftliche Berater und Mitarbeiter zu gewinnen, die essentiell sind, um ein solches Projekt durchzuführen.
Fünf Monate später, Anfang 1997, begann das Projekt.
In welches Jahr wollte man zurückreisen? – Es sollte Anno Domini 1228 sein, beschloss Guyot. Warum? Einfach, weil das ein gutes Jahr war.
Die Grundlagen
Erhebliche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit eine Burg wie aus dem Mittelalter überhaupt realisiert werden kann:
- Andere “Verrückte”, die es wagen würden, ein als verrückt bezeichnetes Bauprojekt zu realisieren. Die es wagen würden, in lächerlicher Kleidung herumzulaufen, alle mühsam errungenen technischen Erkenntnisse der letzten 750 Jahre über Bord zu werfen. Denen es nichts ausmachen würde, ein Anschauungsobjekt wie in einem Zoo zu sein, dem Scharen von Touristen auf die Finger sehen würden. Und ein ganzer Teil dieser Leute sollten auch noch Fachleute für alt hergebrachte Gewerke sein.
- Ein geeigneter Baugrund, der bei Belastung an keiner Stelle nachgibt. Der Grundwasserspiegel sollte zudem so tief liegen, dass er die Gebäude nicht beeinflusst.
- Karawanen mit Ochsengespannen würden nicht zur Verfügung stehen, weshalb die Transportwege möglichst kurz gehalten werden mussten. Ein Steinbruch mit für den Burgenbau geeignetem Material sollte also möglichst in der Nähe liegen.
- Da Guyot und seine Leute keine Werkzeuge aus dem Mittelalter hatten, mussten diese vor Beginn der Bauarbeiten erst einmal hergestellt werden – von Fachleuten nach alt hergebrachten Methoden.
- Die meisten Werkzeuge des Mittelalters waren aus Holz. Es sollte also ein Wald in der Nähe sein als Quelle für Bau- und Köhlerholz. Denn nur mit Holz konnte man keine Schmiede betreiben, sondern brauchte Holzkohle.
- Ton, Lehm und Sand waren essenziell, um Mörtel und Gebrauchskeramik herzustellen. Eine Lehmgrube war zwingend.
- Das Verbringen allen Materials auf den langen Wegen würden ausgebildete Transportpferde besorgen – mittels Holzkarren und -wägen.
- Menschen, Tiere, Mörtel usw. benötigten Wasser.
Man fand im Forst von Guédelon genau das, was man benötigte: Es steht jurassischer Sandstein an, eine Lehmgrube ist nah, das Grundwasser liegt weder zu hoch noch zu tief, und in der Nähe fließt ein kleiner Bach.

Der auch im Mittelalter häufigste Werkstoff war das Holz. Der Holzfäller steht somit am Anfang einer langen Arbeitskette. Mit Axt und Querbeil entrindet er abgelagertes Holz aus dem Wald von Guédelon, um einen Querbalken herzustellen. (Foto: Frank G. Gerigk)
Ein Zimmermann, der Bäume fällen konnte, war einer der ersten Mitarbeiter. Hinzu kamen ein Schmied, ein Maurer, eine Töpferin, verschiedene Steinhauer und -metze, … In dem strukturschwachen Gebiet entstanden knapp 50 neue Arbeitsplätze, die vorwiegend mit Arbeitslosen besetzt wurden. Im Mittelalter wohnte man in zugigen Baracken nahe der Baustelle – so authentisch wollte man in Guédelon nach Dienstschluss jedoch nicht sein; die Mitarbeiter kommen morgens mit dem Kleinbus aus den nahen Dörfern.
Das wissenschaftliche Komitee besteht aus dem Chefarchitekt für historische Bauten, Jacques Moulin, der Archäologin Anne Baud, dem Kunsthistoriker Nicolas Reveyron und dem Experten für alte Schlösser und Burgen, Christian Corvisier. Diese entwarfen die theoretischen Grundlagen und Pläne.
Als besonderer Glücksgriff erwies sich der Bauleiter mit archäologischer Ausbildung: Florian Renucci. Er stieß 1998 hinzu und zeichnete federführend für die Praxis.
Vor der eigentlichen Baustelle
Risikoloser als die bestehende Burg des missliebigen Nachbarn zu überfallen ist es, eine solche erst gar nicht entstehen zu lassen. Eine kleine Schar Bewaffneter könnte also leicht damit drohen, unvorbereitete Bauarbeiter niederzumetzeln. (Im 13. Jahrhundert argumentierten jene, die es sich leisten konnten, gerne mit dem Schwert.) Daher wurde erst einmal eine vergleichsweise schnell zu errichtende Holzburg gebaut. Diese besteht aus einer hölzernen Palisade sowie einem hölzernen Turm in seiner Mitte, vorzugsweise auf einer kleinen Erhöhung. Denn von oben nach unten schießt und prügelt es sich weiter und besser als umgekehrt – in der Militärsprache wird das “taktischer Vorteil” genannt. Hierin konnte man sich im Falle eines Falles zurückziehen, und hier lagerten auch Lebensmittel und Waffen. Ein Wachposten oben auf dem Turm hielt Ausschau. Mittels Signalhorn konnte er schnell die gesamte Mannschaft auf der Baustelle alarmieren und in Sicherheit rufen.
Auch in Guédelon wurde eine derartige Holzburg errichtet. Sie wurde recht schnell erbaut und vielleicht ein wenig lieblos. Es sieht so aus, als rechnete man nicht wirklich mit einem Überfall. Und, zugegeben, mitten im Wald – einer für eine Burg nicht typisch zu nennenden Stelle – kann man auch nicht sehr weit schauen. Sie dient als Symbol, liegt ein klein wenig abseits der Besucherströme, und kaum jemand nimmt sie ernst, zumal zwei Steinwürfe weiter eine grandiose Steinburg errichtet wird.
Zu Unrecht. Diese Großmutter aller Burgen, die so genannte “Motte”, steht am Anfang einer sich sprunghaft entwickelnden Technik, in der Holz sukzessive durch Stein ersetzt wird. In der Sicherheit, die diese Holzburgen zu Anfang des Hochmittelalters gaben, konnten sich Siedlungen ausbreiten und damit Kultur und Wohlstand; die Holztürme gediehen auch entlang der wichtigen Handelsstraßen, und aus den Waffen tragenden Verantwortlichen erwuchs der Ritterstand. Aus dem hölzernen Turm entwickelte sich ein Wohnturm, der zunächst ein steinernes Erdgeschoss hatte, dann ein zweites, ein drittes, … bis daraus ein mächtiger Bergfried erwachsen war, in dem man letztlich doch nicht mehr wohnte, sondern im stattlichen Herrenhaus, das man direkt daneben errichtete. Aus den hölzernen Palisaden wurden steinerne Mauern, welche immer höher wuchsen und letztlich Laufgänge aufnahmen; zaghafte Vorsprünge wuchsen sich zunächst zu Erkern und Türmchen, bald zu massiven Festungstürmen aus. In jeder Generation der sich so schnell wie nie zuvor vermehrenden Bevölkerung erfanden die Baumeister neue Techniken, welche sich auch – da die Baumeister von Baustelle zu Baustelle zogen – recht schnell verbreiteten und für die immer reicher und anspruchsvoller werdenden Bauherren auch bald überall eingesetzt wurden.
Burgen wurden immer wieder verbessert und überbaut. Gibt es charakteristische Bestandteile, welche sehr unscheinbar sein können – die Gestaltung eines Fensterbogens beispielsweise – kann man schnell festlegen, in welcher Generation ein Bauteil einer Burg entstanden ist.
Dies zu wissen ist essentiell für das Verständnis des Projekts Guédelon.
Struktur der Baustelle

Überblick über einen Teil der Baustelle. Die Außenmauer wird als Rampe benutzt, um von der Seite her zum Bergfried zu gelangen. Hier, es ist im Herbst 2011, steht auch das "Hamsterrad", das als Kran dient. (Foto: Guédelon)
Das Zentrum der Baustelle ist das entstehende, 52,50 mal 47,10 Meter große Bauwerk. Darum gruppieren sich Arbeitsbereiche und eine »Dorf« genannte Agglomeration. Der Steinbruch mit den bis zu mehreren Kubikmetern großen, aus dem Verband gelösten Felsen liegt – wodurch man zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt – direkt im entstehenden Graben vor der Burg. Die Hütten der Steinhauer und Steinmetze liegen daneben. Im Uhrzeigersinn folgen Zimmerer, hölzerner Wachturm, Holzfäller, Tiergehege (Schafe, Esel, Gänse, Schweine etc.), Erzschmelze und Töpferei; näher an der Baustelle liegen die Hütten des Seilmachers, der Grobschmiede und die Ställe für Pferde und Esel. Die drei Kaltblüter Dagobert, Idole und Harmonie sind nicht wegzudenkende gut ausgebildete Transportpferde, die aufs Wort folgen (“rechtes Hinterbein heben!”) und bis zu 900 kg schwere Lasten auch durch enge Stellen ziehen können. Korbflechter, Seiler und Waffenschmied ergänzen die Palette.
Auch diese Gebäude, einschließlich der großen Scheune, die als Empfangsbau (und damit quasi als Zeitmaschine) dient, sind mit Mitteln, Materialien und Methoden errichtet, die es auch im 13. Jahrhundert gegeben hat. Einige sind Holzfachwerkhäuser mit Strohlehmwänden und einem Holzschindeldach, andere sind bessere Hütten mit einem Strohdach.
Für Besucher ist ein Pfad ausgeschildert, der bei Modellen klassischer Frühformen von Befestigungen beginnt, um die Baustelle herum und schließlich hinein führt.
Fortsetzung: Der wahr gewordene Traum eines verrückten Galliers II