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Vermischtes

Dumpfbacke im Netz

Der Coronavirus-Hausarrest ist ohne Zweifel eine Sternstunde der Digitalen Revolution, obwohl auch sie von Viren befallen ist. Bits und Bytes ermöglichen Kontakte über grössere Distanzen und eine effiziente Informationsvermittlung, trotz allem. Beim digitalen Verständnis – besser: der digitalen Chuzpe – entscheidet sich, wer wo noch dabei ist in der digital dirigierten Welt und wer eher weniger. Garantien und Sicherheiten? Niemals! Gewissheiten? Vergiss es! Dazu eine aktuelle Anekdote.

Arbeiten im Home-Office

Arbeiten im Home-Office (bau-auslese/Manuel Pestalozz)

Ein Start up lud mich, den Baufachjournalisten, am 10. März 2020 zu einem Business Breakfast ein. Es hätte am 26. März von 7.30 bis 8.30 in einem Kaffee in Zürich stattfinden sollen. Digitale Möglichkeiten im Baufach- und Immobilienbereich wurden auf die Agenda gesetzt. Erfreut und geschmeichelt sagte ich zu. Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass sich dieser Frühstückstermin wegen den COVID-19-Einschränkungen nicht wie vorgesehen am geplanten Tag wird einhalten lassen. Der Start up gab nicht auf: Am 19. März teilte er mir mit, das er den Event am selben Morgen in ein Webinar umwandeln werde – nicht ohne einen digitalen Gutschein für einen Kaffee mit Beilage mitzuschicken. Erneut sagte ich, beeindruckt von der Standfestigkeit des Start ups angesichts der Krise, meine Beteiligung zu. Noch nie hatte ich bisher an einem Webinar teilgenommen – ich weiss bis heute nicht, was darunter überhaupt genau zu verstehen ist, auch wenn ich die Kombination von Web und Seminar im Begriff soweit nachvollziehen kann. Die ganze beschriebene Korrespondenz erfolgte via E-Mail, ein digitales Instrument, das sogar ich beherrsche.
In die E-Mail-Einladung integriert war auch ein Link. Überschrift: Über diesen Link gelangen Sie direkt zum Frühstückswebinar. Ich erhielt ihn nochmals mit zwei Erinnerungsmails, am letzten Mal am Morgen des 26. März. Überschrift: Hier geht’s direkt zum Webinar.
Fremde, unbekannte Links anklicken? Ist das klug? Ich riskierte es, da mir der Start up schon von früheren Gelegenheiten her einigermassen bekannt war. Er schien mir soweit vertrauenswürdig. Der will mich gewiss nicht verscheissern, sagte ich mir, entschloss aber, vor und nach jedem Klick einen Screenshot anzufertigen und sofort auf einem externen Memory-Stick zu speichern – man weiss ja nie, bei diesen digitalen Sachen; theoretisch liegt jederzeit ein Totalabsturz des Systems drin (und alle möglichen Hilfskräfte sind im Hausarrest!). Ich klickte auf den Link. Und gelangte nicht direkt zum Webinar. Ich gelangte überhaupt nicht zum Webinar. Stattdessen wurde ich auf eine rund zehnminütige Odyssee geschickt, an deren Ende ich 10 Screenshots, eine Bestätigungsmail und ein Word-Dokument (Passwort!) auf den Stick gespeichert hatte – und wieder beim Bildschirm des ersten Screenshots angelangte.
So verpasste ich mein erstes Webinar. Meinem Charakter und Temperament (und früheren digitalen Erfahrungen) ist es zuzuschreiben, dass ich sofort eine Abmelde-E-Mail an den Start up schickte, mit dem ausdrücklichen Wunsch, keine weitere Korrespondenz zu diesem Versagen führen zu wollen. Als Zeitgenosse, der sich mit Sprache befasst und mit ihr seinen Lebensunterhalt verdient, ist es vielleicht besonders frustrierend, Texte zu lesen, die nicht halten, was sie von ihrem Inhalt her eigentlich unmissverständlich versprechen. Die empfundene Frustration und
Demütigung mindert die Bereitschaft, sich mit zusätzlichen sprachlichen Botschaften auseinanderzusetzen, welche das Versagen nach einer langfädigen Zusatzkorrespondenz beheben oder zusätzlich verwedeln. Und natürlich plagt einen die drängende Frage: Geht es nur mir so? Wo habe ich gefehlt?
Es kann kein Zweifel bestehen: Die Digitalisierung hebt das Verständnis der Umwelt und das Vertrauen in sie auf eine ganz neue Ebene. Es gibt bei der Erfüllung digitaler Leistungen keine Standards oder Konventionen, wenig Verbindlichkeiten oder klar definierte Verantwortungsbereiche. Die Haftung im Falle eines Versagens, das auf digitale Übermittlungs- oder Verständnisprobleme zurückzuführen ist, ist noch weitgehend ungeklärt. Bislang gilt die bereits jahrzehntealte, bewährte Devise: Der Dumme ist immer der User (man kann das zur Melodie von Reinhard Mey, bei dem es um Mörder geht, nachsummen). Gleichzeitig setzt sich der Siegeszug der digitalen Kommunikationsmittel erbarmungslos fort. Mit ihrer zunehmenden Wichtigkeit wird sich unter den Menschen wohl der Spreu vom Weizen trennen. Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die das auslöst, dürften beträchtlich sein.

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Datum 27. März 2020
Autor Manuel Pestalozzi
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