momentum magazin für Bauingenieure präsentiert von Ernst & Sohn
BIM - Building Information Modeling, Gespräch

Eine wunderbare Zeit für junge Ingenieure

momentum sprach mit Mike Chrimes, Director, Engineering Policy and Innovation der Institution of Civil Engineers (ICE) über Vergangenheit und Zukunft von Literatursammlungen im Bauingenieurwesen.

Mike Chrimes arbeitete seit 1977 im Wissensmanagement der Institution of Civil Engineers (ICE) und leitete eine Reihe digitaler Innovationen ein, um den Zugang zu den Sammlungen der ICE zu verbessern. Er ist Autor vieler Bücher und Vorträge über die Geschichte des Bauingenieurwesens. Das Gespräch wurde anlässlich seiner Verabschiedung in den Ruhestand 2014 geführt.

1. Schwere Zeiten für Bücherfreunde oder ein neues goldenes Zeitalter? Wie würden Sie im Hinblick auf Ihre Arbeit und Ihre Bibliothek den Wechsel von der Ära der analogen zur Ära der digitalen Informationsverarbeitung beschreiben?

Mike Chrimes

Mike Chrimes (ICE)

Für diejenigen, die Informationen suchen, ist sicherlich in den letzten vierzig Jahren alles viel leichter geworden. Aber diejenigen, die die Informationen organisieren, stehen vor grundlegenden Herausforderungen, die erst noch gemeistert werden müssen.

Als ich ins Arbeitsleben eintrat, lagen die meisten Informationen in Papierform vor. Manches war aus Lagerungs- oder konservatorischen Gründen auf Mikrofilm übertragen worden, aber sonst hatte sich an der Informationsorganisation seit dem 19. Jahrhundert wenig verändert.

Früher musste ich beispielsweise in sieben Katalogen des ICE nachschlagen, ob wir ein bestimmtes Dokument besaßen, und es konnte mehrere Tage dauern, eine Bibliografie zusammenzustellen. Beide Aufgaben können heute innerhalb von Minuten erledigt werden. Es ist also leichter geworden, gute Auskünfte zu geben: Theoretisch steht mehr Zeit zur Verfügung, um sich die Inhalte anzuschauen, statt dies den Endnutzern zu überlassen. In der Praxis allerdings hing eine gute Auskunft schon immer vom Wissen um den Inhalt und Wert der betreffenden, Bücher, Aufsätze etc. ab.

Die schnelle Bereitstellung von Wissen ist für die Benutzer prima, aber sie erwarten heute die Auskunft sofort. Das bedeutet, dass hochwertiges Material wegen Unwägbarkeiten der Google-Suche oder einfach, weil es nicht in digitaler Form vorliegt, unbeachtet bleiben kann. Trotzdem würden die meisten zustimmen, dass die Vorteile die Nachteile bei weitem überwiegen.

Es muss sich jedoch noch zeigen, ob Material, das heute ausschließlich im Web vorliegt, in vierzig Jahren noch auffindbar ist. Die Herausforderung, solches Material für einen Zugang „über die Bibliothek“ zu katalogisieren, scheint gewaltig.

2. Die Bibliothek der ICE ist ein Literaturdenkmal des Bauingenieurswesens. Wenn Sie drei Beispiele für die Schätze in ihrer Bibliothek nennen sollen, welche würden Sie wählen und warum?

Runcornbridge Notebook

Thomas Telford, „Runcornbridge Notebook“, (1814–1817) (ICE)

Dreißig Beispiele zu nennen, wäre einfacher, denn drei ist eine sehr enge Auswahl aus Sammelobjekten, deren älteste aus dem 15. Jahrhundert stammen. Wenn es um eigentliche Schätze geht, so würde ich unter den Manuskripten Thomas Telfords Notizbuch nennen, in dem er die Untersuchungsergebnisse und frühen Entwürfe für eine Hängebrücke in Runcorn festhielt. Man erkennt hier, wie sich sein Denken entwickelte und wie er Daten zusammenstellte. Und wir wissen, dass er seine Erkenntnisse mit anderen teilte, denn einiges davon wurde in Peter Barlows „Essay on the Strength and Strain in Timber“ veröffentlicht.

Unter den Büchern würde ich mich für John Smeatons „Reports“ entscheiden, obschon Perronets fast gleichzeitig publiziertes Buch „Description des projets et de la construction des ponts…“ stärker ins Auge fällt. Smeaton formte den Berufsstand in Großbritannien; alle, die ihm nachfolgten lernten – wie Robert Stephenson bemerkte – in technischen Fragen und hinsichtlich seiner Projektorganisation. Unter den Zeitschriften würde ich Försters „Allgemeine Bauzeitung“ nennen – wegen der Qualität ihrer Illustrationen, wegen ihrer Reflexionen zum internationalen Bauwesen, vornehmlich von Culmann, und wegen ihres langen Bestehens. Sie war eine der ersten Zeitschriften zum Bauingenieurwesen.

3. Welchen Einfluss hat die Digitalisierung des technischen Wissens auf das Ziel der ICE, „die Kunst und Wissenschaft des Bauingenieurwesens zu fördern“?

Essay on the Strength and Strain in Timber

Peter Barlow, „Essay on the Strength and Strain in Timber“, 1817 (ICE)

Die analoge Welt der gedruckten Zeitschriften, des Briefverkehrs und der persönlichen Begegnungen begünstigte, dass sich Bauingenieure erst einmal an Kollegen und nicht gleich an die ICE wandten. Wenn die Kollegen nicht weiter wussten, waren sie bereit, auf unsere Antwort zu warten. Heute sind die Erwartungen viel höher geworden.

Ein wesentliches Motiv in der digitalen Ära – die für uns die Bereitstellung eines Online-Katalogs, ein Register der ICE-Publikationen, E-Mails, die Website, die Digitalisierung von ICE-Publikationen, elektronische Zeitschriften, ausleihbare E-Books und Vorträge im Netz umfasst – ist für mich, den Zugang für Mitglieder und andere Nutzer, die die Bibliothek nicht persönlich aufsuchen können, zu erleichtern. Bis zu 25 % der Mitglieder leben im Ausland, und die Besucherfrequenz im Haus war und ist gering. Im Ergebnis des elektronischen Zugangs hat sich die Nutzung seit den frühen 1980er Jahren verdoppelt, unsere aufgezeichneten Vorträge haben jeden Monat ein Publikum von 16.000 Personen, Live-Veranstaltungen gerade einmal ein Viertel davon. Wir können die meisten Anfragen innerhalb eines Arbeitstages beantworten und digital Material bereitstellen, für dessen Versendung mehrere Posttage nötig wären.

4. Würden Sie der Behauptung zustimmen, dass die Bibliothek eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des Selbstverständnisses der Bauingenieure in der angelsächsischen Kultursphäre gespielt hat?

Smeaton Reports

John Smeaton, „Reports“, Bd. 1, Titelseite, 1812 (ICE)

Die ICE war weltweit das Vorbild für Vereinigungen von Bauingenieuren, und ihre Bibliothek wurde von Anfang an als ein Schlüsselelement der Förderung der Kunst und Wissenschaft des Bauingenieurwesens betrachtet. Ihre Sammlungen sollten die Breite des Wissens widerspiegeln, die ein Bauingenieur brauchte, und berücksichtigen, dass sich gute Verfahren weltweit finden ließen. Die Bibliothek repräsentiert daher im Rahmen der gegebenen finanziellen Möglichkeiten das Wissen, das Bauingenieure in den letzten 300 Jahren nutzten. So betrachtet verkörpert sie den „Bauingenieur“ als solchen, nicht bloß seine angelsächsische Ausprägung.

5. Ließe sich behaupten, dass die Bibliothek eine Auswirkung auf die Entstehung eines Kanons des Bauingenieur-Wissens hatte?

Die fortgesetzte Existenz der Sammlungen und ihre Anpassung an die wechselnden Bedürfnisse des Berufsstands macht sie zu einer wichtigen Quelle, um zu erkennen, welches Wissen das Bauingenieurwesen ausmacht. Für das 19. Jahrhundert gibt es kaum einen Zweifel daran, dass die Institution erklärte, ihre Bibliothek verkörpere das „Wissen der Bauingenieure“. Heute müssen wir in der Themenauswahl selektiver vorgehen, wollen aber immer noch die ganze Welt abdecken.

6. Wie unterscheidet sich die Entwicklung des Bauingenieur-Wissens in der deutschen und in der angelsächsischen Kultursphäre?

Karl Culmanns Bericht

Karl Culmanns Bericht über die nordamerikanischen Brückenbauten in: Försters „Allgemeine Bauzeitung“, 1851 (ICE)

Betrachten wir, wie sich das Wissen der Bauingenieure im Verlauf von 250 Jahren entwickelt hat, so ließe sich das angelsächsische Modell für die meiste Zeit als eines der Selbsthilfe im individuellen und institutionellen Sinne beschreiben. Außerdem hatte dieses Modell eine größere globale Wirkung als das „deutsche“. Die deutsche Kultursphäre ist durch die Geschichte des letzten Jahrhunderts geschrumpft, aber seit 200 Jahren sind dort technische Universitäten, staatlich geförderte Forschungsinstitute, staatliche Ingenieursunternehmen, organisierte Wissenssammlungen und eine enge Verbindung der akademischen Welt und der Industrie von Bedeutung. In Großbritannien gab es, abgesehen von ein paar bemerkenswerten Ausnahmen, vor dem späten 19. Jahrhundert kaum eine universitäre Ausbildung für Ingenieure. Das Wissen verbreitete sich überwiegend im Meister-Schüler-Verhältnis, durch den Besuch von Abendschulen, durch Lektüre und durch Berufsvereinigungen. Da britische Ingenieure international Vereinigungen gründeten, verbreiteten sie das Modell. Man sieht das z. B. in den USA. Die USA waren aber kulturell gemischt, weil auch aus Deutschland stammende Ingenieure wie Roebling oder der Österreicher Terzaghi bedeutenden Einfluss ausübten.

Heute könnte man den deutschen Berufsstand als in seinem Wissen selbstgenügsam betrachten, während der angelsächsische in seinem Wissen weiterhin weltweit orientiert ist, so dass es wahrscheinlich auch den größeren internationalen Einfluss hat.

Vor hundert Jahren waren die deutschen Ingenieure wegen der stark theoretisch ausgerichteten Ausbildung gut ausgerüstet, um Bodenmechanik und die Stahl-/Spannbetonbauweise voranzubringen. Heute scheinen mir die Unterschiede in dieser Hinsicht nicht mehr so ausgeprägt zu sein. Um 1900 wurden drei Schifffahrtskanäle gebaut: Der Nord-Ostseekanal und der Panamakanal waren Leistungen staatlicher Ingenieurbaukunst, der Manchester Ship Canal das Resultat privaten Unternehmertums. Es gibt eindeutig gesellschaftspolitische Unterschiede, die bestimmten, wie diese Infrastrukturen beschafft und umgesetzt wurden, aber wie sich diese Unterschiede zu Modellen des Bauingenieur-Wissens verhalten, ist weniger klar. Die meisten Regierungen und Verwaltungen wollen heute „mehr für weniger“; im Zeitalter des Klimawandels sind Anpassung und Schadensminderung wichtig geworden. Man glaubt allgemein, in Deutschland ließe sich leichter Geld für technische Innovationen auftreiben, aber das Vereinigte Königreich ist nach wie vor sehr erfolgreich im Export von Dienstleistungen, die auf bautechnischem Wissen beruhen.

7. Wie beeinflusst die digitale Präsentation bautechnischen Wissens die Ausbildung und die Arbeit von Bauingenieuren?

Wir bewegen uns schnell auf einen digitalen Arbeitsablauf verbunden mit Gebäudedatenmodellierung (BIM) und intelligenter Infrastruktur zu. Eine neue Generation vom BIM-Experten entsteht. Es ist noch nicht klar, ob diese sich als traditionelle Architekten oder Bauingenieure oder als eine neue, „digitale“ Berufsgruppe verstehen. Das Verhältnis zwischen den akademischen Schlüsselfächern – Baustatik, Geotechnik, Werkstoffkunde, Hydraulik etc., – und dem Wissen, das es braucht, eine Gebäudedatenmodellierung für den gesamten Lebenszyklus der Infrastruktur aufzustellen, ist in der Entwicklung begriffen. Viele Daten und Informationen fließen in BIM ein; das Verhältnis, welches sich dabei zu Bibliotheken und Archiven entwickelt, wird für deren Zukunft entscheidend sein. Die vertraglichen Verpflichtungen müssen sich in der realen Welt erst noch erproben – sicherzustellen, dass die Daten eines 20 Jahre alten Modells weiterhin zugänglich sind, ist eine interessante Herausforderung.

Eine wunderbare Zeit für junge Ingenieure.

Das Interview führte Dr. Burkhard Talebitari. Die Übersetzung stammt von Dr. Christian Rochow.

Weitere Informationen:

Das Gespräch erschien ebenfalls in “Steel Construction – Design and Research” und “Stahlbau“.

 

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Datum 20. August 2014
Autor Burkhard Talebitari
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