momentum magazin für Bauingenieure präsentiert von Ernst & Sohn
Rezension, Vermischtes

Ich und Wir – post- oder transhuman

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Philosophie ist griechisch, als Wort wie ihrer Herkunft nach. Die beiden Wiegen sogenannter abendländischer Kultur werden Athen und Jerusalem genannt. Das Denken Athens gilt dabei als dem Sehen verpflichtet, das Jerusalems dem Hören. Insofern wäre eine „Visual Philosophy“ ein Doppelmoppel, was nur bedingt spitzfindig ist.

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Ein vertracktes Büchlein voller Zeichnungen – und eins von hoher Relevanz für alle an digitaler Planung Beteiligten.

Ein vertracktes Büchlein voller Zeichnungen – und eins von hoher Relevanz für alle an digitaler Planung Beteiligten. (Lars Müller Publishers)

Ein Buch voll Zeichnungen, betont einfachen Zeichnungen, ein Kinderbuch auf den ersten Blick. Aber alles andere als das: eine visuelle Philosophie, die so, kann sein, nur einer Sprache entstammen möchte, die keine Buchstaben kennt, sondern Zeichen. Das Zeichen und die Zeichnung und die Hieroglyphe, als die zuweilen die Schriftzeichen des Chinesischen bezeichnet wurden. Auch der Begriff der Autorschaft gerät ins Schwimmen, ob eines Buches, das fast nur Zeichnungen und kaum Wörter enthält, die sich zu knappen Sätzen fügen. Die „Autorin“, Ruida Si, ist Chinesin und das Buch auch für alle am Bau Beteiligten interessant, wenn es um die Frage des Wir bei digitaler Kooperation geht.

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Ken’ya Hara (jap. 原 研哉, Hara Ken’ya; 1958 in der Präfektur Okayama, Kaiserreich Japan) geboren, ist Graphiker, Gestalter und Kurator. Oft wird er als derzeit wichtigster Designer Japans bezeichnet. Googeln Sie sein Werk, es gehört hier nicht unbedingt her. Doch ist er der Lehrer Ruida Sis und steuerte ein knappes Vorwort bei.

In diesem nennt er die “Visuelle Philosophie” seiner Schülerin „einen Versuch, grafisch über das Leben und das Universum nachzudenken.“ Indem wir unsere Gedanken der Vorstellungskraft anvertrauten, die durch die Grafikserie hervorgerufen werde, oder, mit anderen Worten, einer Reihe von Bedeutungen, die in der natürlichen Sprache nicht existierten, könnten wir zu neuen Spekulationen gelangen, die durch Sprache oder Logik nicht erreichbar seien. Liegt in Sis Buch ein Hase im Pfeffer, dann hier.

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Philosophie ist Sprache oder sie ist nicht. Das Primat der Zeichnung und des Designs ist auch im Absehen von der Sprache keins und kann keines werden. Bedeutungen sind ohne Sprache nicht zu haben und so sind „neue Spekulationen …, die durch Sprache oder Logik nicht erreicht werden können“, eine Sache, so dick wie ein Mops und eventuell nicht neu. Aber das spricht nicht gegen Sis Buch, das den sprachüberschreitenden Anspruch ja nur im Vorwort ihres Lehrers stellt. Der wäre mit etwas kleineren Worten dem kleinen, vertrackten Buch eventuell gerechter geworden.

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Verschwätzt wäre das exakte Gegenteil zu den kurzen, kargen Texten, ohne die Sis Zeichnungsbuch dann doch auch nicht auskommt. Und sie können lakonisch, ironisch eventuell fast ätzend sein: Die Silhouette einer Art menschlichen Lebewesens, gezeichnet aus Einsen und Nullen, links daneben der Kommentar: „Wenn die Genbearbeitung unter programmierbare Kontrolle gestellt wird, werden die Präferenzen des Programmierers sehr wichtig sein.“ (Im Orig.: If gene editing is put under programmable control, the programmer’s preferences will be very important.) Oder wir sehen eine zum Quadrat aufgeblähte Gestalt, deren Gliedmaßen nur noch mit etwas Phantasie erkennbar, einen schmalen, quadratischen Rahmen ausfüllen. Hier wird das kommentierende Wort beinahe zur Parabel auf die ökologische Situation der Menschheit, auf das Verhältnis zwischen Mensch und seinem Planeten: „Mir war nicht klar, wie klein der Raum war, bis der Notstand ausgerufen wurde.“ (Im Orig.: I didn’t realize how small the room was until a state of emergency was declared.) Wie klein der Raum tatsächlich ist, scheint auch das kleine, quadratische Buch versinnbildlichen zu wollen, angefüllt mit seinen kargen Strichzeichnungen und beinahe spröden Kommentaren.

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Seite 294/295

Seite 294/295 (Abbildung: Lars Müller Publishers)

Fast will es scheinen, als verrieten Sis Zeichnungen wie ihre zum Aphorismus neigenden Kurztexte etwas, das in der Luft liegt. Die Strichmännchen-Gestalten, so gut wie immer nur in Umrissen auftretend, überwiegend ohne Schraffur oder sonst welche graphischen Mittel illustriert …, aber „auftreten“ ist das falsche Wort. Den Figuren eignet ein- wie mehrdeutig etwas Posthumanes, sie treten nicht auf, scheinen digital zu nomadisieren, sind nicht da, oder allenfalls noch als Idee … Gegen Ende des Buches sehen wir neun kreisförmig zu etwas wie einer Sonne angeordnete, miteinander verwachsene Figuren – als Menschen, wie zumeist, nur durch ihre vier Extremitäten erkennbar; und ihre Köpfe, zu einem Kopf geronnen, stiften in einem Rund den Mittelpunkt der vermeintlichen Sonne. Der knappe Kommentar liest: „Aufgrund des Lebens in einer Internet-Gesellschaft, bin ich Miteigentümerin der Gedanken von unzähligen Menschen.“ (im Orig.: Due to life in an Internet society, I co-own the minds of countless people.) Hier, wie in so vielen anderen ihrer Zeichnungen und Kommentare, vermag die ungemein reizvolle Ambivalenz von Ruida Sis „Visual Philosophy“ deutlich zu werden, wenn die Zeichnung zugleich an das klassische Neurose-Konzept der Psychoanalyse wie an ein „neues Wir“ denken lässt.

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Keine Vollmundigkeit. Wenn Ken’ya Hara in seinem Vorwort „angesichts des drohenden Zusammenbruchs der globalen Umwelt“ davon schreibt, es würden die Menschen beginnen „zu begreifen, dass der Versuch, das Leben in den Begriffen einer einzigen Generation zu verstehen, keine Zukunft“ habe, ist das nicht zu weit gegriffen. Die Menschheit müsse sich darauf vorbereiten, das „Ich“ durch ein „Wir“ zu ersetzen, das die Kontinuität des Lebens als das Generationen und Individuen überwindende Thema definiere.

Seite 150/151

Seite 150/151 (Abbildung: Lars Müller Publishers)

Das Ich, in seiner autonomen Spielform, ist ein Projekt der sogenannten Moderne. Hören wir es in der Forderung nach dem „Wir“ ächzen, laboriert es an seinem Bankrott? Erkennt es seine zahlreichen Überforderungen und tritt die Flucht ins „Wir“ an? Oder ist das gänzlich falsches Fragen, wo man dem über sich selbst aufgeklärten Ich auch seinen Reifegrad attestieren könnte, der ihm die Unvermeidbarkeit des „Wir“ zu begreifen erlaubt?

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Hier ist der Punkt, an dem die Bedeutung des kleinen, famosen Büchleins, auch für alle am Bau Beteiligten aufleuchtet. Der Diskurs rund um Kooperation, der sich in großen Teilen der hierfür relevanten Literatur leider als einer um „Kollaboration“ etablierte, dieser Diskurs ist im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Bauens schon beinah ein alter Hut, ohne deshalb seiner Realisierung notwendig näher zu kommen.

Das Postulat des „homo cooperativus“, das in der Soziologie inzwischen formuliert wird, dürfte sich tatsächlich des Unzureichenden, letztlich Verhängnisvollen einer wettbewerblich strukturierten Ich-Gesellschaft verdanken. Wenn überhaupt, kann nur der kooperative Mensch gemäß einer These des Soziologen Claus Leggewie, angesichts des drohenden Zusammenbruchs der globalen Umwelt, von dem bei Ken’ya Hara das Wort geht, diesen noch verhindern. Die Konkurrenzgesellschaft hat da ausgedient. Wie viel davon unterdessen bloß wishfull thinking sein kann, in einer neoliberalem Wirtschaften als Credo verpflichteten Gesellschaft, ist ein Fragen, das auf einem anderen Blatt steht und hier nicht geklärt werden kann oder darf. Doch festzuhalten ist die Forderung nach dem „Wir“, dem Fundament aller Kooperation und der Basis allen noch irgend zukunftsfähigen Tuns und Lassens.

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Die ungemein reizvolle Ambivalenz, die wir oben für Ruida Sis kleines großes Büchlein bemühten, leuchtet in beinah jeder Zeichnung unmittelbar auf und ein. Nase und Mund spendiert die Zeichnerin ihren Strichfiguren nie, wie auch keine Geschlechtsmerkmale – jede ihrer Figuren hat etwas Gespenstisches, eventuell aber auch Verletzliches, jedenfalls Drolliges. Schultern haben diese Wesen keine, können sich die kalte selbige also nicht zeigen, der Kopf geht direkt in den Arm über. „Consciousness + body“ nennt sie die erste, vielfach im Buch anzutreffende Gespenst-Gestalt. Dieselbe hat in ihrer zweiten Ausprägung auf den Seiten 256/57 gewisse, kabelartige, mit Punkten wie Konnektoren versehene Linien im linken Arm und Bein: „Consciousness + body + machine“ heißt Si das. Die dritte Figur zeigt jene Linien schon – einem Apparat gleich – im ganzen Körper, bis hoch zum noch human-medizinisch gezeichneten Gehirn. Diese Figur steht für: „Consciousness + machine“. Die vierte und letzte Figur endlich gleicht in allem der vorherigen, hat „nur“ statt des Gehirns, etwas wie eine Chipkarte zwischen den Augen ihres nun tatsächlich eckigen Kopfes. Benannt wird sie: „Shared consciousness + machine“. – Implantierte Chips sind für uns Heutige nichts ganz Neues mehr. Bewusstsein und Maschine rücken immer näher zusammen. In der vierten Figur aber kommt das – durch social media inflationierte Teilen hinzu: der vernetzte Mensch teilt sein Bewusstsein mit der Maschine, was fraglos auch als ein Weg zum Wir betrachtet werden könnte, wenn auch zu einem anderen, als dem der traditionell grammatischen 1. Person Plural. Wenn hier noch Ambivalenz im Spiel ist, ist es keine mehr der Science Fiction, noch nicht einmal mehr Fiction, eventuell aber noch eine der Science. Fehlt dem ermüdeten Ich das wissenschaftlich sanktionierte Wir? Oder entsinnen wir uns des Du, das, weit greifend zum Display verkommen, nur noch in der konkreten Begegnung ein nicht bloß wissenschaftliches Wir erlaubt? – Ein vertracktes Büchlein …

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Falsche Prämissen. Die vorletzte Doppelseite des Büchleins stellt eine letzte Frage im Zusammenhang mit zwei Figuren, von denen die eine etwas einer alten Telefon-Wählscheibe Gleichendes in ihrem teils eckig ausgeprägten Kopf hat. Die andere hält den guten alten, Kabel-Telefonhörer ans nicht vorhandene Ohr. Verbunden sind beide durch ein Festnetz-Telefonkabel. Der Kommentar liest: Wenn wir über physische Barrieren hinweg kommunizieren könnten, wäre das bequemer oder lästiger? (Im Orig.: If we could communicate beyond physical barriers, would it be more convenient or more troublesome?) Ein mit „shared consciousness + machine“ befasstes Denken übersieht als solches, dass wir dank unserer Sprechfähigkeit, immer schon – als sprachbegabte Wesen, die wir noch sind – über physische Barrieren hinweg kommunizieren können und nicht „könnten“. Die Ironie der die beiden Wesen verbindenden, alten Telefontechnik implodiert hier in einer Idylle der kommunikativen Verbundenheit, welche die vernetzte Seele in ihrer Isolation nicht mehr kennen kann. Aber „kommunikative Verbundenheit“ ist hier natürlich ein arg weißer Schimmel – wie „vernetzt“ und „Isolation“. Und doch möchte es scheinen, als seien diese Dopplungen Symptom. Wäre in Herz wie Verstand, dass Kommunikation qua ihrer selbst über physische Barrieren hinweg geschieht, gäbe es nur Verbundenheit, aber keine kommunikative. Das isolierte Individuum unterdessen muss als isoliertes sich vernetzen und ein Netz zieht sich zu, war noch immer ein Fanggerät. – Neuere philosophische Diskurse über „Entnetzung“ gibt es nicht erst seit gestern…

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Ist da auf jeder Seite und in jeder Zeichnung diese intrigierende bis irritierende Ambivalenz, dieses Changieren zwischen Doppeldeutigem und Doppelmoppeligem? „In der Natur“ heißt es auf Seite 082 (gut digital sind die ein- und zweistelligen Seitenzahlen mit Nullen versehen …): „erneuert das Leben seine eigene Information in allen möglichen Formen.“ (Im Orig.: „In nature life is renewing its own information in all sorts of forms.“) Der Satz gesteht immerhin ein, es erneuere das Leben sich anders als die bits and bites digitaler Systeme, wie lernfähig sie auch immer werden; aber zugleich auch hier das mittelschwer besorgte Fragen, was denn an Leben Leben noch sei, wenn es aus Informationen bestehe. Informationen formieren, das Leben kennt keine Formation, aber alle Arten von Formen, die ihnen Sis Satz ja auch zuschreibt. Es dürften aber diese unerschöpflichen Formen und Ausprägungsmerkmale allen Lebens sein, durch die „das Wissen“, über das wir laut Ken’ya Haras vollmundigem Vorwort „bereits verfügen“, sich eben nicht „durch grafische Neuinterpretation zur Anerkennung einer neuen Realität entwickeln“ kann und muss.

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Seite 42/43

Seite 42/43 (Abbildung: Lars Müller Publishers)

Vielleicht, kann sein, es ist doch etwas mehr an Zukunft noch in diesem kleinen Buch. In Zeiten, in denen Schrift der Furie des Verschwindens anheimfällt, scheinen Sis Zeichnungen sich zur Ausbildung neuer Schriftzeichen anzuschicken. Hieroglyphen einer posthumanen Gesellschaft. Graphische Neuinterpretation einer Surrogate ausbildenden Zeit – Kommunikation für Verbindung, Netz für Isolation, Display für Du … Aber, weiß Ken’ya Hara, es handele sich nicht nur „um eine grafische Darstellung von bestehendem Wissen; die grafische Abfolge und der begleitende Kommentar“ ließen vielmehr „den Leser zum ersten Mal eine neue Realität der Kosmologie und Biologie erleben.“ Das zeitige ein neues Denken, von dem Ken’ya Hara hofft, Betrachter- und Leser:innen möchten dessen Resonanz erkennen, die durch das neue Subjekt „wir“ anstelle von „ich“ entstehe. Hier bleibt auch dem Verfasser dieser Zeilen bloßes Hoffen darauf, es möchte dieses „wir“ kein Surrogat fürs ermüdete, überforderte „ich“ bloß sein.

|Nachbemerkung|

Nicht post- vielleicht, sondern transhuman. In „The transHuman Code“ (2019) gehen die Autoren Carlos Moreira und David Fergusson der Frage nach, ob wir mit Hilfe großartiger Technologie eine bessere Zukunft für die Menschheit bauen oder stattdessen auf Kosten der Menschheit eine Zukunft mit besserer Technologie? Solch Fragen scheint ohne das Subjekt „wir“ kaum vorstellbar; nur dürfte es ein anderes sein, als das eines graphisch neuinterpretierten, die Schrift ablösenden, in die vage Unverbindlichkeit des Bildhaften übergehenden „Denkens“.

Das Subjekt ist Subjekt qua Identität und Identität ist „Identitäuschung.*“ Dennoch zeitigte das „wir“ als Subjekt sie im Plural – als Garant gegen alle obwaltende Monothematik und das Gerede von der Alternativlosigkeit? „Die menschliche Identität hat“ für Carlos Moreiera „einen Wert, der ausgenutzt wurde und wird, wenn wir die jüngsten Technologietrends nicht umkehren. Indem die Menschheit selbst die Macht wieder in die Hände der Menschen legt, die sich mit Technologie beschäftigen, können wir Menschen den wahren Wert unserer Identität auf eine Weise erkennen, die wir nie für möglich gehalten hätten.“ Der Gedanke verschluckt sich allenfalls an der Identität. – „Je est un autre“ – das Ich ist nicht erst seit dem franzöischen Lyriker Arthur Rimbaud ein anderer. Es ist ein Wir in der Begegnung mit dem Du – in diese Richtung dürften alle Wege aus den uns erwartenden Katastrophen führen. Oder: Leben erneuert eben nicht seine Informationen, sondern seine Lebendigkeit immerzu, in allen möglichen Formen, außer identischen …

*Titel eines Werkes des israelischen Dichter-Denkers Elazar Benyoëtz

 

Ruida Si, Visual Phiosophy, Foreword by Kenya Hara, Design: Ruida Si, 11,8 × 16 cm, 4 ¾ × 6 ¼ in, 304 pages, 160 illustrations, paperback, Lars Müller Publishers, Zürich 2022, ISBN: 978-3-03778-688-8, English, 25,- €

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