Rezension
Kognitive Apokalypse

Gérald Bronner, Kognitive Apokalypse, Verlag C. H. Beck, München 2022, Hardcover, 285 Seiten, 24,00, ISBN: 978-3-406-79128-4 (Cover-Abbildung: Verlag C.H. Beck)
Unter Apokalypse geht es kaum dieser Tage, denkt man vielleicht, das Buch von Gérald Bronner aufschlagend, das auch im frz. Original den nämlichen Titel trägt: Kognitive Apokalypse. Doch erfährt der Leser nach ca. der Hälfte des Buches, dass bei der Titelwahl gar theologischer Sachverstand obwaltete. Der Autor verweist auf die Gründe, die den biblischen Apokalypse-Text zum Synonym für „Katastrophe“, wo nicht „Weltuntergang“ machten. Er verweist jedoch auch auf des Wortes Ursprung vom Griechischen her, wo es „Enthüllung“, „Entschleierung“ oder „Offenbarung“ heißt.
Und spätestens hier (S. 139) wird dem Leser offenbar(t), dass der Titel „Kognitive Apokalypse“ vielleicht einerseits die dramatischen bis traumatischen Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Kognition umspielt, dass andererseits und vielmehr aber der Autor vorführt, was die Kognitions-Forschung uns noch alles über unseren Umgang mit Netz und digitalen Medien zu offenbaren vermag.
Kann sein, hier liegt die Crux des Buches, das der Leser eventuell aufschlägt, um mehr über die gesellschaftliche Frage aller Fragen zu erfahren; also die – auch für alle in Bauberufen mit der Digitalisierung Beschäftigen – anstehende Frage, was die im Untertitel „Pathologie der digitalen Gesellschaft“ geheißene Situation für den kreativen wie zutiefst zwischenmenschlichen Bereich unseres Daseins bedeuten möchte.
Die bereits eingangs des Textes (S. 19 ff) entfaltete Pointe ist dabei so simpel wie einleuchtend: Das von Arbeit und sonstigen existentiell notwendigen Betätigungen befreite Maß an Zeit (in der Übersetzung etwas unglücklich „Gehirnzeit“ genannt), das die Menschheit sich über Jahrhunderte erkämpfte (und erarbeitete), wird von uns durch digital-multimediale Versklavung und unablässiges Tun-müssen schier antiaufklärerisch wieder verspielt. So sind etwa Langeweile und Warten als Quellen von Kreativität kaum mehr relevante Kategorien, wo das Display-Wischen reflexhaft wurde.
Tatsächlich erfährt man mithin einiges etwa über den „Diebstahl an unserer mentalen Verfügbarkeit“ (S. 96), die kognitive Anziehungskraft von Konfliktsituationen (S. 92), die journalistische Versuche mit sogenannten „guten Nachrichten“ schlicht verblassen lassen, oder darüber, wie wir kognitiv überfordert werden ob einer sich seit 2013 alle zwei Jahre verdoppelnden Informationsmenge (S. 70). Da stellt sich auch die den Text durchziehende bange Frage danach ein, was überhaupt noch unsere Aufmerksamkeit erregen könnte und das nicht die Qualität einer Information, sondern ihre kognitive Befriedigung (S. 191) den Ausschlag fürs Anklicken einer Nachricht gibt.
Derlei und viele weitere recht erschröckliche Erkenntnisse, die nicht selten auch zu argen Selbsterkenntnisse geraten, prägen das Buch bis es gegen Ende, nach einigen Schlenkern gegen soziologisch und philosophisch geprägte (besonders wider die sogenannte Frankfurter Schule gerichtete) gesellschaftstheoretische Erklärungsversuche die Kurve zum hohen Lied der Kognitions-Forschung kriegt. Da wird es dann einigermaßen hirnphysiologisch etwa rund ums Verhältnis zwischen Striatum, das für unseren zwanghaften Drang nach unmittelbarer Befriedigung aller Art einsteht und frontalem Cortex als „so unerlässlich … hemmendem“ Gehirnteil gegen die kognitive Apokalypse (im ugs. Sinne des Wortes). Auch fatale politische Implikationen zwischen kognitiver Demagogie und Populismus etwa (S.219) exemplifiziert der Autor sehr wohl, um im Resümée dann in einer Art diskursiver Bauchlandung sich davor zu verwahren, „Maßnahmen zur Regulierung des kognitiven Marktes“ das Wort zu reden, „die unsere Freiheit zerstörten.“ (S. 261) Dass diese Freiheit kaum anders denn als neoliberale deutbar erscheint, legt des Autors Credo nahe, wir seien zwar Teil der Natur „und die Intentionalität“, die „unsere Erforschung des Möglichen“ beschleunige, sei – „bis zum Beweis des Gegenteils – gleichfalls eine Hervorbringung der Natur.“ Wir müssten, als „einzige Spezies, die in ihrem Handeln primäre und sekundäre Folgen zu berücksichtigen vermag“ – selbstverständlich kognitiv-wissenschaftlich vermittelt – „noch lernen, unser gesamtes Potenzial zu entfalten.“(ebd.)
Erst wenn die Hirnforschung, als sei das möglich, unser Fühl- wie Denkvermögen zu Ende erforscht hat (das letzte Kapitel heißt „Der Endkampf“) und wir unser kognitives Potenzial offenbart bekamen, wird alles wieder gut und die mentale Versklavung der Vergangenheit angehören. Das wäre als Schlusssatz eventuell etwas polemisch, drückt aber eine gewisse Enttäuschung nach der Lektüre darüber aus, dass an dem, was in Sachen Kreativität, Spontaneität und Aufmerksamkeit diesseits aller Geräte-Stürmerei für uns längst mehr als nur auf dem Spiel steht, auch in diesem Buch mit verheißungsvollem Titel recht erfolgreich und Kognitionsforschungs-selig vorbeigeschrieben wurde.