Reise
Lissabon verstehen
Mit welchen Bildern nähert man sich Lissabon? Ist sie die Stadt, die nach dem infernalischen Erdbeben von 1755 in ungekanntem Glanz wieder auferstanden ist? Oder ist sie die Stadt der lebhaften Anachronismen, die sich eine Straßenbahn leistet, in der man den unbedingten Willen des industriellen Zeitalters nach haarsträubender Geschwindigkeit nicht nur ideell spürt? Oder ist es die Stadt des Saudade, diesem ganz eigenen Ausdruck einer sehnsuchtsvollen Melancholie, die einem im nostalgischen Gefühl des Verlustes von etwas geliebtem scheinbar für alle Ewigkeit gefangen hält?
Natürlich gibt es noch unendlich viele dieser romantisierenden Bilder. Und natürlich prägen sie die Wahrnehmung dieser Stadt. Aber genauso natürlich blenden sie Aspekte aus, die Lissabon jenseits der konventionellen touristischen Brille überaus spannend machen. Da ist der offensichtliche Leerstand in großen Teilen der Altstadt; da ist Sanierungsrückstand und teilweise Gebäudezerfall in den historischen Vierteln, da sind die Brachflächen und die geringen Neubauaktivitäten, die sich seit Jahren überwiegend auf die suburbanen Ränder konzentrieren. Und da sind Lösungen, die zeigen, wie mit all dem auf eine Weise umgegangen werden kann, die eben kein Ausdruck von melancholischer Nostalgie ist, sondern Stadt als eher dynamischen denn statischen urbanen Raum begreift.
Der Architekturführer Lissabon öffnet den Blick auf ein in diesem Sinne erweitertes Verständnis der Stadt. Seine Autorin Sophia Walk präsentiert einen Begriff von Raum, der mehr als die drei üblichen Dimensionen beinhaltet: „Nach Lefevbre produzieren erst die sozialen Prozesse den Raum und machen ihn zu einem konkreten Gegenstand. Das soziale Handeln findet in Abhängigkeit der räumlichen Strukturen statt. Die räumlichen Strukturen wiederum sind abhängig von sozialen Prozessen.“ Diese Idee der Verschränkung von urbanen Raum mit sozialen Handlungen ihrer Benutzer erlaubt es, bei jedem Viertel, bei jedem Gebäude, bei jeder Straße und klassischerweise natürlich auch bei jedem Platz nicht nur auf deren historischen und teilweise musealen Wert aufmerksam zu werden, sondern auch auf ihre zeitgebundene Funktionalität innerhalb eines so verstandenen urbanen Raumes.
Sophia Walk und Herausgeber Volker Kleinekort schlagen dem architekturinteressierten Besucher Lissabons insgesamt drei Touren vor. Die erste führt durch das Zentrum der Stadt. Sie beginnt im Norden, im Parque Eduardo VII., und endet an der Praça do Comércio am Ufer des Tejo. Dazwischen liegt die Baixa, die Unterstadt. Sie wurde nach dem Erdbeben von 1755, bei dem sie vollkommen zerstört wurde, nicht rekonstruierend wieder aufgebaut, sondern neu angelegt. Der damalige federführende Architekt, Eugénio dos Santos e Carvalho, wollte ein neues Lissabon und entwarf ein streng geometrisches Straßennetz, das an ein Schachbrettmuster erinnert. Die einzelnen Straßen sollten dabei nach dem Modell „morgenländischer“ Städte unter den Gewerken aufgeteilt werden – was offensichtlich auch gelang. Wenn man von der Rua Augusta, der zentralen Einkaufstraße, rechts und links abweicht, kommt man auf die Rua dos Sapateiros, die Straße der Schuhmacher, oder auf die Rua dos Correeiros, die Straße der Sattler, oder auf die Rua da Prata, die Straße der Silberschmiede. Die meisten Häuser der Baixa folgen in ihrem Aufbau einer bestimmten historischen Funktionalität: Das Erdgeschoss war für die Läden und Werkstätten der Handwerker vorbehalten, in der zweiten und dritten Etage befanden sich Büro- und Lagerflächen, eine Etage darüber waren die Wohnräume untergebracht und unter dem Mansardendach konnten die Bediensteten ihr Lager aufschlagen. Eine signifikante Anzahl dieser Gebäude wartet auf eine neue Funktion.
Vielleicht das augenscheinlichste Beispiel einer solchen neuen Funktionalität liefert im innerstädtischen Bereich die sogenannte LX Factory. Das Areal von 23 000 Quadratmetern wurde über die Zeit von verschiedenen Industrien genutzt. Am Ende waren es die Druckindustrie, die dort residierte – aber auch wieder verschwand. Ein Projektentwicklungsunternehmen erkannte das städtebauliche Potenzial des Areals und erwarb es 2005. Seitdem ist es ein Knotenpunkt der Kreativwirtschaft. Die Räume werden nun für Ateliers genutzt, für Agenturen, Galerien, Cafés und natürlich für Projekte, die in den riesigen Hallen erst verwirklicht werden können. Es ist dort ein urbaner Raum entstanden, der in seiner Vitalität nicht nur für Lissabon beispielhaft ist.
Die zweite Tour führt in den Parque das Nações, dem ehemaligen Weltausstellungsgelände. 1998 richtete Lissabon die Weltausstellung in einem Teil der Stadt aus, der vorher lediglich eine riesige Industriebrache war. Die Expo als Ausstellung der Welt von morgen, der Ideen des zukünftigen Arbeitens, Wohnens und Lebens, veränderte dieses Areal grundlegend. Es wurde ein urbaner Raum neu geschaffen, der in die Zukunft weisen sollte – und das nicht nur für die Dauer der Ausstellung. „Nachhaltigkeit“ ist das Stichwort, und die gelang, so Sophia Walk. Der Parque das Nações ist heute eben keine verlassene oder halbherzig zurückgebaute Brache, die ein beredtes Zeugnis von der „Vergänglichkeit eines Traumes von Zukunft im Zeichen eines nahezu unbedingten Glaubens an wirtschaftliche Expansion und technologischen Fortschritt“ ist, sondern ein urbaner Raum, der von mehr als 20 000 Menschen bevölkert wird.
Die dritte „Tour“ des Architekturführer Lissabon ist eher eine Ansammlung von architektonisch interessanten Objekten als eine Tour, die der Besucher zusammenhängend abfahren oder ablaufen könnte. Sie hebt Orte heraus, die über den gesamten Stadtraum und das Umland Lissabons verteilt zu finden sind. Ein Beispiel ist das Kulturzentrum Bom Sucesso in Alverca nordöstlich Lissabons. Es liegt in einem für suburbane Verhältnisse sehr dicht bebauten Raum, dessen Wohnbauten von eher niedriger Qualität sind. Seine Bewohner setzten sich zum großen Teil aus Migranten zusammen, die aus dem Landesinneren kommen und in die Umgebung der großen Städte ziehen. Es ist eng in diesen Straßenzügen und das Kulturzentrum, das in einen Hügel zwischen zwei parallel verlaufenden Straßen eingefügt ist, bietet demgegenüber einen möglichen Raum zum „Atmen“.
Ein weiteres Beispiel für die Anpassung an eine veränderte Nutzung findet man in Cascais, einem Küstenort 25 Kilometer westlich Lissabons. Das Conservatório de Música ist in einer Villa untergebracht, die die Architekten wegen ihres typologischen Charakters in ihrem Bestand unbedingt bewahren wollten. Eine Veränderung erfuhren nur die Innenräume, die an die Anforderungen des Unterrichts eines Musikkonservatoriums angepasst wurden, und der Garten, in dem ein Neubau für Proben und Orchesterkonzerte entstand. Der Neubau wurde entlang der verlängerten Fundamente des Bestandgebäudes ausgerichtet und fügt sich damit beinahe organisch an das Chalet Madelena an. Die Villa und ihr Garten ist nun ein Ort für den musikalischen Austausch.
Der Architekturführer Lissabon bietet seinen Lesern mit einer Vielzahl dieser Orte einen erweiterten Blick auf die Stadt und ihre Umgebung. Die sehr zahlreichen und sehr hochwertigen Abbildungen werden von Texten flankiert, die immer wieder auf die Rolle des Abgebildeten in seinem urbanen Kontext verweisen. Der Titel versteht sich somit auch als Beitrag, die jüngsten Erkenntnisse der Urbanistik, die sich mit schrumpfenden Städten, Zwischennutzungen und dem Umgang mit städtebaulichen Brachen beschäftige, einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Weitere Informationen:
Der “Architekturführer Lissabon” ist bei DOM publishers erschienen.
240 Seiten, 250 Abbildungen, 28,00 Euro.