Leben
Was ist Arbeit?
Wenn ein Philosoph über das Leben nachdenkt, dann wird es interessant. Denn, nicht wahr, das weiß doch jeder: Philosophie hat mit dem Leben gar nichts zu tun, ein Philosoph hat vom wirklichen Leben keine Ahnung. Philosophie ist eine Angelegenheit von Theoretikern im Elfenbeinturm. Sie wird toleriert, aber niemand interessiert sich wirklich für ihre unlesbaren Traktate. Leider muss man sagen, dass die Philosophen selbst wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Schade, denn sie hätten es besser wissen können: Die meiste Zeit in der langen Geschichte der Philosophie war ihre Hauptbeschäftigung das Leben und die Frage, wie es gekonnt zu leben ist. Selbst der Begriff der Lebenskunst, heute nur noch ein Wort für das angenehme, leichte, sorgenfreie Leben, ist eigentlich von Grund auf philosophisch: griechisch téchne tou bíou, téchne perì bion, lateinisch ars vitae, ars vivendi. Lebenskunst ist bewusste Lebensführung. Leicht an ihr ist, wie bei aller Kunst, nichts; vielmehr ist sie anstrengend, eine Arbeit. Aber was hat diese Art von Arbeit mit all der Arbeit zu tun, die heute den Begriff nahezu für sich allein beansprucht – und vielen Menschen fehlt? In welchem Verhältnis stehen also Arbeit und Leben?
Wie weit Arbeit und Leben in der Moderne auseinander gedriftet sind, verrät die Rede von der Work-Life-Balance: Arbeit und Leben, harte Erwerbsarbeit und schöner Lebensgenuss, Beruf und Familie, Sinnloses und Sinnvolles sollen miteinander zu vereinbaren sein. Aber schon vom Begriff her verweist der angestrebte Ausgleich auf das eigentliche Problem, das zugrunde liegt: Weil Arbeit nicht mehr als Bestandteil eines sinnvollen Lebens wahrgenommen wird, muss zwangsläufig nach einer „Balance“ beider gesucht werden. Das Problem, und folglich die Lösung, könnte auf Seiten des Begriffs der Arbeit selbst zu finden sein. Daher rückt die Frage ins Zentrum: Was ist Arbeit?
1. Was ist Arbeit?
Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Eine Stelle zu haben, um vom Ertrag leben zu können. Doch das ist nur das in der Industriegesellschaft entstandene moderne Verständnis des Begriffs. Für eine andere Moderne lässt sich der Begriff versuchsweise anders definieren, nur ein Vorschlag: Arbeit ist all das, was ich in Bezug auf mich und mein Leben leiste, um ein schönes und bejahenswertes Leben führen zu können. Jede Aufmerksamkeit und jeder Aufwand an Kraft hierfür kann Arbeit sein, körperlich, seelisch, geistig. Dann kommen einige Arbeiten in den Blick, die gewöhnlich gar nicht als solche betrachtet werden, die aber von Bedeutung sind.
Vorweg 1. die Arbeit an sich selbst, die Pflege der Selbstbeziehung als Voraussetzung für die Beziehung zu Anderen, beginnend mit einer Selbstaufmerksamkeit, um die eigenen Vorlieben und Abneigungen, Stärken und Schwächen besser kennenzulernen. Auf dieser Basis wird die Selbstdefinition möglich, die dem Ich bestimmte Konturen gibt, mit einer Festlegung seiner wichtigsten Beziehungen, Erfahrungen, Ideen, Werte, Gewohnheiten und selbst Verletzungen, schließlich des Schönen, Bejahenswerten. Mit einer Selbstbefreundung sind die gegensätzlichen Seiten im eigenen Selbst auszutarieren, etwa Denken und Fühlen, Zärtlichkeit und Zorn, Souveränität und Ängstlichkeit, Freiheitsdrang und das Bedürfnis nach Bindung. Aus der Festigung innerer Zusammenhänge erwächst eine Erfahrung von Sinn. Diese Arbeit ist dem Selbst vollkommen zu Eigen, irgendwelche Arbeitslosigkeit ist hier nicht zu erwarten, und es ist diese Arbeit, die die Voraussetzung für alle weiteren Arbeiten darstellt und sie durchdringt.
Etwa 2. die Arbeit an Freundschaft, die moderne Menschen bewusst zu leisten haben, um enge Bindungen zu Anderen zu gründen und zu pflegen. Die Pflege der Freundschaft kann nur in nichtmodernen Kulturen noch eine fraglose Selbstverständlichkeit sein, in modernen Kulturen ist jedoch eine Arbeit daraus geworden, die unverzichtbar ist: Mit dem wahren Freund, der Freundin können die tieferen Gespräche geführt werden, auf die so viel im Leben ankommt. Kleine und große Lebensfragen sind zu besprechen, Geschehnisse, Begegnungen und Erfahrungen hin- und herzuwenden und Schlüsse daraus zu ziehen: Welche Erfahrungen sind wie einzuschätzen? Welchen Werten soll welche Bedeutung beigemessen werden? Was ist wirklich wichtig im Leben? Was ist schön, was bedeutet Glück, was macht Sinn, was nicht?
Ferner 3. die Familienarbeit, an der kein Weg vorbei führt, jedenfalls dann, wenn es Familie überhaupt noch geben soll, die vom Verfall der Beziehungen infolge moderner Befreiung in ihrem Kern getroffen worden ist. Familie existiert nicht mehr aufgrund religiöser, traditioneller und konventioneller Vorgaben, sondern aufgrund einer freien Wahl der Beteiligten, für die gute Gründe sprechen können: Geborgenheit und Vertrautheit, die Erfahrung von Liebe und die Weitergabe von Leben, die als schön und bejahenswert empfunden werden kann, sind am ehesten im Rahmen einer Familie zu verwirklichen. Familienarbeit heißt, die engsten Beziehungen zu pflegen, das immer schwierige Zusammenleben zu koordinieren, den gemeinsamen Rhythmus fürs Leben zu finden, Kinder zu erziehen, den familiären Alltag zu bewältigen. Aber die Mühe, die sie macht, wird reich entlohnt: Menschen, die in familiären Bindungen leben, stellen sich in aller Regel die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht mehr; das Leben in Familie ist der Sinn, nicht der einzig mögliche, aber einer, der nur mit großer Mühe anderweitig zu ersetzen ist.
Über die Familie hinaus ist jedoch die gesamte Gesellschaft von der modernen Auflösung von Beziehungen bedroht. Umso größere Bedeutung gewinnt daher neben der Organisation des Privatlebens 4. die Bürgerarbeit. Sich selbst als Bürger wahrzunehmen, der an der Integrität der Gesellschaft arbeiten kann, ist ein Wesenszug der Demokratie. Ein Beispiel für Bürgerarbeit ist soziales Engagement, um die Selbsthilfe zu organisieren und die Dienste zu leisten, die nicht Sache des Staates und nicht der Privatwirtschaft sein können. Gerade diese Arbeit, beispielsweise als Lesepate an Schulen, die schlecht oder überhaupt nicht entlohnt wird, vermittelt Lebenssinn und Sinn der Arbeit, wohl weil die Freiheit der Arbeit hier am stärksten erfahrbar ist.
Ins Blickfeld rückt 5. auch die Muße als Arbeit, wenngleich der bloße Begriff schon paradox erscheinen mag. Die Bezeichnung „Arbeit“ ist wichtig, sonst nimmt es niemand ernst. Die Muße ist, ergänzend zum tätigen Leben (vita activa), die geistige Lebensweise (vita contemplativa), in der das Nachdenken, Andersdenken, Überdenken, Neudenken sich entfalten kann, nicht zielorientiert, nicht nützlich im unmittelbaren Sinne und gerade aus diesem Grund eine unerschöpfliche Ressource an Kreativität.
2. Arbeit am Sinn und Erwerbsarbeit
Die Muße ist die Zeit 6. für die Arbeit am Sinn. „Was ist der Sinn dessen, was ich mache?“ Die Frage nach dem Sinn wirft über die Arbeit hinaus die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens auf: Keine sinnvolle Arbeit, kein sinnvolles Verhältnis von Arbeit und Leben, kein Sinn im Leben. Was ist Sinn? Sinn ist überall dort, wo Zusammenhänge zu erkennen sind und fühlbar werden, sie können Halt vermitteln und enorme Energien freisetzen. Während Sinn unbegrenzte Kräfte freisetzt, macht Sinnlosigkeit kraftlos, ausgebrannt, krank. Ein Burnout entsteht dort, wo jeglicher Sinn zerbricht. Die Erfahrung des „Ausgebranntseins“ ist ein klarer Indikator für die Dringlichkeit der Frage nach Sinn.
Sehr viel hängt davon ab, ob der Arbeit und dem Leben Sinn gegeben werden kann. Es geht darum, Zusammenhänge der eigenen Arbeit, jeder Arbeit, in größerem Rahmen zu sehen und danach zu fragen, welche Bedeutung ihr zukommt, in einem Haus, in einer Institution, in der Gesellschaft. In Frage stehen in erster Linie teleologische Zusammenhänge, um auf ein Ziel, einen Zweck (griechisch telos) hin arbeiten zu können. Dabei wären zunächst heteronome Ziele und Zwecke durch autonome zu ersetzen, um sich Ziele und Zwecke der Arbeit nicht von Anderen vorgeben zu lassen, sondern selbst darüber zu entscheiden, wofür zu arbeiten sei. Zum Gegenstand einer eigenen Sinngebung werden ferner soziale Zusammenhänge, um andere als nur funktionale, wenigstens einige kooperative, im besten Fall freundschaftliche Beziehungen im Leben und im Arbeitsumfeld zu begründen. Denn wenn über teleologische Zusammenhänge hinaus auch soziale entbehrt werden müssen, kann es zur bitteren Erfahrung völliger Sinnlosigkeit bei jeder Arbeit kommen. Wichtig sind ebenso ökologische Zusammenhänge, sich eingebettet fühlen zu können in die Natur: Warum sonst suchen Menschen nach Erholung in der Natur und kommen mit neuen Kräften zurück?
Als begrenzt erweist sich demgegenüber die Reichweite ökonomischer Zusammenhänge: Macht die Arbeit für Geld, macht sie in diesem Unternehmen, macht das jeweilige Unternehmen, macht Wirtschaft überhaupt Sinn? Durch Geld ist Sinn nicht zu ersetzen: Materielle, pekuniäre Sinn-Zusammenhänge sind weniger ergiebig als ideelle, gedachte und gefühlte; sie setzen nicht dieselben Energien frei. Sind die erkennbaren Zusammenhänge ausschließlich ökonomischer Natur, treibt dies zwangsläufig Fragen nach ethischen Zusammenhängen hervor, nach einer Bindung der Arbeit und des Wirtschaftens an Werte, an eine gesellschaftliche, soziale und ökologische Verantwortung. Auch Ökonomie kommt nicht umhin, „Sinn zu machen“.
Und schließlich, fast vergessen, nun jedoch eingebettet in die verschiedenen Aspekte von Arbeit, 7. die Erwerbsarbeit. Nicht, dass sie unbedeutend geworden wäre, aber es ist von entscheidender Bedeutung, dass sie ihren Platz im Gesamtrahmen aller Arbeiten findet, um geleistet werden zu können. Diejenigen lassen sich auf ein trügerisches Glück ein, die sich der Erwerbsarbeit allein anvertrauen, denn ihre Ressourcen erschöpfen sich im Burnout des Workaholic. Aber die genannten anderen Arbeiten ermöglichen erst die Einbettung der Erwerbsarbeit in ein Umfeld, in dem sie gut bewältigt werden kann und das auch dann noch tragfähig ist, wenn sie verloren gehen sollte. Dass beim Ausbleiben der einen Arbeit alle anderen erhalten bleiben, mag als schwacher Trost erscheinen, kann aber lebensrettend sein.
3. Statt Arbeit und Leben die Lebensarbeit
Statt Erwerbsarbeit und Leben getrennt zu sehen und nach einer Balance dazwischen zu suchen, kommt es darauf an, einen umfassenderen Begriff von Arbeit zu gewinnen: Im Begriff der Lebensarbeit können das Leben und die verschiedenen Aspekte von Arbeit zusammengefasst sein. Lebensarbeit stellt die Zusammenhänge wieder her, die sich gegen einen allein ökonomisch bestimmten Arbeitsbegriff geltend machen lassen: Arbeit ist nicht bloße „Güterproduktion“ oder lediglich „entlohnte Tätigkeit“, sondern ein Akt der Gestaltung des Lebens, ars laborandi als Bestandteil der ars vivendi. Die Arbeit an etwas, die Art und Weise der Arbeit, die Haltung, mit der gearbeitet wird: All das wirkt auf das Selbst zurück, und zwar so sehr, dass auch Charaktereigenschaften davon geprägt und verändert werden, nach dem Grundsatz des fabricando fabricamur: Durch das Arbeiten wird das Selbst bearbeitet.
Lebensarbeit ist Arbeit an ideellen Zusammenhängen, vor allem eine ideelle Aneignung der Arbeit, auch der Erwerbsarbeit, um sie als wertvollen Teil des eigenen Lebens zu sehen. Arbeit, welche auch immer, ist kein „Sinn an sich“. Sinn gewinnt sie nur im Rahmen von Zusammenhängen, insbesondere mit dem eigenen Leben, um auf die Gefahr der Enteignung zu antworten, die darin besteht, Arbeit, welche auch immer, als etwas bloß Äußerliches zu sehen; denn damit wird ihr möglicher Sinn verschenkt und Lebenszeit vertan. In abhängiger Tätigkeit sind es die größere Eigenverantwortung und Möglichkeiten zur Umsetzung eigener Ideen, die zur Aneignung der Arbeit beitragen; am meisten aber die innere Beteiligung, die Investition seiner selbst in die Arbeit. Keine Aufopferung ist damit gemeint, keine Übermotivation, kein ausufernder zeitlicher Umfang der Arbeit – eher im Gegenteil: Die reduzierte Zeit kann dem wachsenden Interesse an der Arbeit förderlich sein.
Die vollständige Aneignung der Arbeit und deren Integration in die Lebensarbeit aber scheint in freier Tätigkeit möglich zu sein, denn bei dieser Arbeit geht es um die Existenz, sowohl im materiellen als auch im ideellen Sinne. Es handelt sich um eine riskante Lebensform, aber auch um ein umfassend angeeignetes Leben, eine Form von Selbstmächtigkeit, bei der ein Mensch Herr und Sklave seiner selbst zugleich ist. Bei aller Mühe und Anstrengung kommt damit die mögliche Freude an Arbeit, das Glück, das mit ihr verbunden sein kann, die Arbeit als Erfüllung wieder in den Blick. Erstrebenswert erscheint jedoch, in jeder Arbeit Fülle und Erfüllung erfahren zu können, aufgrund der vielfältigen Vernetzung mit Anderen, nicht allein für sich sein zu müssen, sondern „unter Menschen sein“ zu können; aufgrund der Vielzahl von Erfahrungen, die den Spielraum des Selbst erheblich erweitern; aufgrund von Herausforderungen, die gesucht und angenommen werden, in denen das Selbst wachsen und sich um Exzellenz bemühen kann. Arbeit kann ein Sinn des Lebens sein, und nur Arbeit, die Sinn macht, macht auch glücklich, nicht nur im Moment, sondern dauerhaft.
Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Umfangreiche Vortragstätigkeit, seit 2010 auch in China. Viele Jahre lang war er als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien, sowie als „philosophischer Seelsorger“ an einem Krankenhaus bei Zürich/Schweiz tätig.