Rezension
Wesentliche Darstellung des Urbanen

Markus Peter, Ulrike Tillmann, Hans Scharoun und die Entwicklung der Kleinwohnungsgrundrisse – Die Wohnhäuser Romeo und Julia 1954 – 1959, Park Books, Zürich 2020, Mit Fotografien von Georg Aerni und einer Einführung von Eva-Maria Barkhofen, Gebunden, 232 Seiten, 106 farbige und 152 s/w Abbildungen, 25 x 32.5 cm, CHF 65.00 | € 58.00, ISBN 978-3-03860-156-2 (Cover: Park Books)
„Die Vernunft ist unser inneres Auge, das Organ für das Unsichtbare, den Geist“, schrieb der weltweit erste Inhaber eines Lehrstuhls für Psychiatrie, Johann Christian August Heinroth (1773 – 1843). Geht es um die Entwicklung der Kleinwohnungsgrundrisse nach Hans Scharouns Verständnis, geht es um das Organ, freilich nicht für das Unsichtbare, sondern den sehr sichtbaren Doppelwohnungsbau Romeo und Julia in Stuttgart – „Organ“ ganz gewiss aber für den Geist einer Architektur, die wir uns angewöhnt haben „organisch“ zu nennen. Das möchte kaum verkürzt die adäquat entfaltete Kernthese des bei Park Books erschienenen Bandes „Hans Scharoun und die Entwicklung der Kleinwohnungsgrundrisse“ – Die Wohnhochhäusern Romeo und Julia 1954 – 1959 von Markus Peter und Ulrike Tillmann sein.
Fern aller Schlagworte und Ideologien
„Die Organform“ hatte Scharoun 1954 „als wesentliche Darstellung des Urbanen“ bezeichnet. Wobei er in einer Laudatio auf Alvar Aalto diesem attestiert, seine Vernunft erfülle lediglich die Aufgabe der „Kritik an den strukturellen Grundlagen … auf denen … das Künstlerische und das Urbane“ beruhten. Wichtig ist hier Scharouns Ergänzung: „Fern aller Schlagworte und Ideologien, die heute als ‘Urbanität’ das Feld des Städtebaus beherrschen.“ Das setzt sich freilich der Frage aus, inwieweit denn recht eigentlich die Organform selbst fern aller Schlagworte und Ideologien sei. Auch dazu bietet der Band, der Planung und Entstehung der beiden Wohnblocks historisch minutiös und faktengesättigt berichtend zur Darstellung bringt, Bedenkenswertes.
Indem die Autoren ausführlich auch auf die Widerstände, die sich für Scharoun in der Planung von Romeo und Julia ergaben, eingehen, leuchtet das Irisierende, Vage – auch ideologisch – Widersprüchliche des Begriffs der Organform auf. Der Geschäftsführer von Scharouns Büro, Willi Oppenländer, legt den Zeitpunkt der erstmaligen Planvorlage für Behörden und Öffentlichkeit auf 1952 fest. Viele der Widerstände während der Planung, so Peter und Tillmann, habe Oppenländer da bereits ausgeblendet (S. 79), doch hätten die Pläne in seiner Erinnerung „gleichermaßen begeisterte Zustimmung wie echte Schocks“ ausgelöst. (ebd.)
Was organisch an der Entwicklung der Wohnungsgrundrisse ist, und wie sich Scharouns diesbezügliche Verständnis entwickelte, bringen die Autoren auf langen, eng bedruckten Seiten zwischen opulent dokumentierten und hervorragend gedruckten (!) Plänen und Zeichnungen zu adäquater Darstellung. Und natürlich stößt das Neue der Grundrissplanung auch auf den Widerstand der Behörden. So vermutete der Baurat des Stuttgarter Bauförderungsamtes, „dass die ‘eigenwillige Grundrisslösung und -gestaltung die Einhaltung der verbindlich vorgeschriebenen Pflichtnormen unmöglich“ mache, deshalb „einen um mindestens 20 % höheren Baukostenaufwand“ erfordere und somit von der Landeskreditanstalt nicht zu fördern sei. (S. 80) So wurde aus bezahlbarem Mietwohnraum schon damals „nur“ Eigentum und der Wohnungsverkauf geriet zur „alles entscheidenden Grundlage für die Umsetzung des Projekts.“ (ebd.) Die gelang unter der Prämisse, vor Baubeginn wenigstens 40 Wohnungen verkauft zu haben, was, so Oppenländer, nur dadurch erfüllt werden konnte, dass man eigene Handwerker, Familienmitglieder, Architekten und Mitarbeiter zu Wohnungskäufen überredete. (S. 81/82) Anders wären die organischen Kleinwohnungsgrundrisse in Stuttgart nie realisiert worden. Das wäre schon insofern nur zu bedauern gewesen, als Scharoun mit zwei seiner Stuttgarter Planung zugrundeliegenden Vorlesungen 1950 an der TU Berlin maßgeblich zu, so die Autoren, „neuen Erkenntnissen in der Grundrissforschung und -entwicklung“ beitrug. (S. 85)

Hans Scharoun (1893-1972), 187 Stuttgart-Zuffenhausen, Schozacher Straße 40, Schabbacher Straße 15, Wohnhochhausgruppe „Romeo und Julia“*, 1954-1959: Grundriss (1:100). Kopie: Diazotypie auf Papier, 59,1x80,7 (Scanmaß h x b). Inv. Nr. SCH WV 187/005. (Zeichnung: Hans-Scharoun-Archiv)
Werdegang der Wohnung im abendländischen Raum
Scharoun entwarf in diesen beiden Vorlesungen eine „grundsätzliche Anschauung über den ‘Werdegang der Wohnung im abendländischen Raum’“. Er machte dabei ihren Ursprung „in der ‘Gruppierung der Funktionen des Hauses und der Wohnung um einen religiös begründeten Mittelpunkt – die Herd- oder Feuerstelle’“ aus. (ebd.) Das „in einem synoptischen Geflecht“ ausgelegt Tableau Scharouns folge in seiner vertikalen Ausrichtung der Bauernhaus-Forschung, während die horizontale Linie die Herausbildung städtischer Wohnformen kennzeichne. Dieses entwicklungsgeschichtliche Diagramm ergänze er mit Grundrissen und Perspektiv-Skizzen, „in denen“ so die Autoren weiter, „wir unzählige Topoi der deutschen Hausforschung“ wiederfänden: „die Pfostenbauten der Rechteckhäuser in Mayen aus der Jungsteinzeit, den planmäßigen Bau reiner Wohnstraßen“ in Nürnbergs „Fuggerei bis hin zu den Berliner Mietshausgrundrissen.“ Aus archaischen Zeiten erwähne Scharoun sodann die Reihenhäuser aus Kahun in Ägypten, die u. a. vor dem heißen Westwind schützten und zu Reihen zusammengefasste Arbeiterhäuser hervorbrachten. Beispiel aus der Gegenwart sind für ihn die auf der Weißenhof-Siedlung gezeigten Reihenhäuser J.J.P. Ouds von 1927. Das alles dient Scharoun als Beispiele „einer Entwicklung zum städtischen Haus, in der ‘die Sphäre von Lebensbau und Wirtschaftsbau’ verlassen wurde und die die (derzeit pandemisch unterminierte, der Verf.) zunehmende Spezialisierung von Arbeiten und Wohnen voneinander trennte.“ (S. 85)
Was die Autoren „innerhalb der modernen Wohnbauforschung“ als „vollkommen überraschende und unbekannte Wende in das Feld der Genealogien, in das ‘Ursprüngliche und Eindeutig-Umfassende’“ bezeichnen, markiert eine Denkbewegung, die unter Rückgriff auf die Geschichte der ästhetischen Geschichtsklitterung des architektonischen Historismus’ der Gründerzeit begegnet und sich – ziemlich vergleichbar – in der Literaturgeschichte etwa bei Alfred Döblin ausmachen ließe.

Hans Scharoun (1893-1972), 187 Stuttgart-Zuffenhausen, Schozacher Straße 40, Schabbacher Straße 15, Wohnhochhausgruppe „Romeo und Julia“*, 1954-1959: Lageplan (1:500). Kopie: Fotomechanische Kopie auf Papier, 49,6x78 (Scanmaß h x b). Inv. Nr. SCH WV 187/064. (Zeichnung: Hans-Scharoun-Archiv)
Fallhöhe
Die theoretischen Überlegungen Scharouns zur Genealogie des Wohnens, so unübersehbar, und eventuell bewundernswert organisch – weil (geschichtlich via geschichteter Bauformen quer durch die Jahrhunderte) geworden – sie sich gerieren, erzeugen aber eine fast spektakuläre Fallhöhe zu der Ernüchterung, die den Betrachter des letzten Kapitels des Buches anfallen kann. Es besteht ausschließlich aus durchweg hervorragend gedruckten, zeitgenössischen Fotografien und zeigt Wohnhochhäuser, an denen noch der Architektur-affine Passant sehr leicht achtlos vorbeiginge. Da verraten einzelne Details der Kubatur, der von öden Balkonreihen geprägten Stockwerksstruktur – ohne allzu viel Polemik – beinahe plattenbauartigen Charakter noch dann, wenn der schiefwinklige, sich in einzelnen Fassadendetails abbildende Grundriss die löbliche Ablehnung des heute omnipräsenten Rasters vorführt.
Architekturdiskurse, das zeigt die Entstehungsgeschichte von Romeo und Julia nicht nur wegen ihrer drolligen, zu bloßem Wohneigentum führenden Finanzierung schier beispielhaft, sind ideologische Diskurse oder sie sind keine. „Fern aller Schlagworte und Ideologien“ kann auch Hans Scharouns organischer Kleinwohnungsgrundriss nicht sein. Doch kann es angehen, dass kaum einer sich dessen so bewusst war, wie Hans Scharoun selbst, wenn er die „sieben Todsünden der modernen Gesellschaft“ ausmachte: „Reichtum ohne Arbeit, Genuss ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Geschäft ohne Moral, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Religion ohne Opfer, Politik ohne Prinzipien – Gott“ resümiert Scharoun, „prüft Herz und Nieren, der Mensch den Geldbeutel.“ (Website der Scharoun-Gesellschaft). Seine Berliner Philharmonie brachte es als einziges zeitgenössisches Bauwerk in Adornos Ästhetische Theorie. Da springt einen die organische Form und ihre atemberaubende Schönheit an, bei Romeo und Julia gilt es, sie zu suchen. Und begibt man sich hinter die zu seinen Lebzeiten nicht mehr fertig gewordene Berliner Staatsbibliothek, ist von Organischem in Anbetracht der autogerecht geplanten, so aber nie realisierten Trassenführung, die noch die Rückseite der Staatsbibliothek bestimmt, rein gar nichts mehr zu finden.
Werkzeug
Unter dem rundum vagen Begriff des Organischen versammeln sich bekanntlich disparateste Architekturauffassungen eines Gaudí, Mendelsohn oder Frank Lloyd Wright und eben eines Scharoun. Gewiss muss das kein Nachteil sein und ein jeder dieser Architekten schuf auf seine je eigene Art Bewundernswertes. Begreift man das Organische aber als aus einer Sache heraus sich organisch Entwickelndes und damit als Gegensatz zum mechanisch Additiven, übersieht man eventuell die Bedeutung des Wortes „Organ“ als „Werkzeug“. Es ist dann zu der gedanklichen Parallele der funktionalistischen Moderne nicht sehr weit.
Für Louis H. Sullivan war es „das Gesetz aller organischen und anorganischen, aller physischen und metaphysischen, aller menschlichen und übermenschlichen Dinge, aller echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele, dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, dass die Form immer der Funktion folgt.“ Vielleicht wäre die notorische Zusammenfassung dieser These, „form follows function“, heute beinahe schon wieder aus der kalten Glutenkiste aller Architekturtheorie hervorzukramen. Eher sicher aber will erscheinen, dass sich zumindest architektonische Parallelen nicht erst im Unendlichen schneiden.
An wissenschaftlichem Wert und Bedeutung des – liebevoll gestalteten und mit umfangreichen Anmerkungen und Literaturangaben versehenen – Bandes nicht nur für alle an der Grundrissforschung interessierten, schmälert das übrigens rein gar nichts.