Mein Ausland
Wie war’s eigentlich in Japan?

Dr. Eng. Arch. Ewa Maria Kido, Projekt- und Forschungsingenieurin; CTI Engineering Co., Ltd. – Tokio; Lehrbeauftragte Tokyo City University
Fünf Fragen an Dr. Eng. Arch. Ewa Maria Kido, Projekt- und Forschungsingenieurin; CTI Engineering Co., Ltd. – Tokio; Lehrbeauftragte Tokyo City University, über ihre Tätigkeit in Japan.
momentum
Sie haben als Architektin die Brückengestaltung an japanischen Brücken übernommen. Sehen Sie Unterschiede in den ästhetischen Vorstellungen einer Brücke zwischen Japan und Mitteleuropa?
Kido
Noch aus der Vorzeit herrührend, kennzeichnete die Brücke in Japan gewöhnlich ein stark symbolischer Sinn. Die alten Stein- und Holzbogenbrücken führten oft zu den Shinto-Schreinen jinja. Dabei hatten die beiden Brücken-Enden hashizume besondere Bedeutung – durch Skulpturen unterstrichen. Die traditionellen Brücken waren mit großem Schönheitsgefühl gestaltet worden, was aus alten Holzstichen ukiyo-e ersichtlich ist. Eine derartige Einstellung fand sich auch später noch in der Meiji-Periode (1868-1912). Die Gestalt der Nihonbashi-Steinbrücke (1911) in Zentral-Tokio etwa vermag das zu zeigen. In den darauffolgenden Perioden Taishō (1912-1926) und Shōwa (1926-1989) erhielten die japanischen Brücken eine neuzeitliche Prägung (Stahl u. Beton). In der Nachkriegszeit der 60er und 70er Jahre entsprachen die Brücken vorerst nur ihren Funktionsbedürfnissen. Spätere Erfordernisse der Brückenästhetik in Japan ähnelten denen in Europa der 80er Jahre (von japanischer Tradition ergänzt) und waren durch gute Finanzlage des Landes begünstigt. Es wurden nicht nur interessante Brücken gebaut, aber auch ganze Brückentrassen zwischen den Inseln erstellt. Das heutige japanische Verständnis der Brücke entspricht weitgehend dem europäischen – man sorgt für höchste Qualität, neueste konstruktive Lösung und in jeder Hinsicht attraktive Formen.
Die ästhetischen Effekte einer Brücke ergeben sich auch aus dem Prozess der Fertigstellung. In Japan sind die Architekten oft mit dem Entwurf von Details beschäftigt, aber zuweilen auch mit der Wahl der Brückenstruktur. Eine solche Praxis entspricht der Projektgliederung und auch der Ansicht, dass die Brücke eine Domäne des Bauingenieurs ist. In Ausnahmefällen werden die Brücken auch von bekannten Architekten entworfen, wie z.B. die Toyota-Brücke (Toyota Ōhashi; 1999), die von Kisho Kurokawa projektiert wurde. Ich hatte die Gelegenheit alternative Brückenlösungen vorzubereiten, z. B. Vorschläge unserer Firma für einige Brücken des New Tomei Expressway (Dai-ni Tōmei; 2012). Dennoch arbeite ich als Architektin zumeist an den Vollendungsentwürfen der Brücken – um nur die Sōda-bashi (Yamanashi Präf.), Nakadori Ōhashi (Gunma Präf.) und Shioya Ōhashi (Okinawa) zu nennen.
momentum
Welche Erfahrungen sammeln Sie als einzige Frau in einem Projekt?
Kido
Als Frau erlebte ich nie Geringschätzung oder Misstöne, obwohl in Japan die Karriere von Frauen langsamer vorwärtskommt und Frauen nur wenig Führungsposten besetzen (4,5 % im Jahr 2011). Meine Position verdanke ich meinen Studien an der University of Tokyo, die in Japan die angesehenste Universität ist. Die Tatsache, dass ich Ausländerin bin, ist auch günstig, weil ich leichter und offener meine Meinungen aussprechen kann, als meine japanischen Kollegen. Dabei ist mein Wissen die Grundlage – mein akademischer Grad hat nur einen Prestigewert.
momentum
Wie würden Sie die Unterschiede in der tatsächlichen Situation am Arbeitsplatz beschreiben?
Kido
In Japan arbeitete ich zunächst im Architekturbüro von Kisho Kurokawa. Während meiner jetzigen Stellung war ich auch wissenschaftlich am Institut für Verkehrspolitische Studien (ITPS) tätig und beaufsichtigte auch den Bau des neuen polnischen Botschaftsgebäudes in Tokio. Daraus ergeben sich meine Erfahrungen.
Zunächst einmal gibt es hier ein starkes Gefühl der Hierarchie. Die Achtung des Vorgesetzten und der Älteren wird in der Art der persönlichen Adressierung und des Verhaltens zum Ausdruck gebracht – z.B. die Einnahme des Platzes und das Ergreifen des Wortes während eines Treffens. In der Firma kümmert man sich um Harmonie und Vermeidung offener Konflikte. Es geschieht aber schon mal, dass die Vorgesetzten ihre Untergebene ziemlich streng behandeln. Zu den Stereotypen gehört, dass Japaner ihre Gefühle nicht offenbaren, doch zeichnen sich diese auf ihren Gesichtern ab.
An japanischen Arbeitsplätzen befinden sich alle Angestellten an ihren Schreibtischen, deren Anordnung die Betriebshierarchie widerspiegelt. Die Büroflächen haben gewöhnlich eine s. g. „open office“-Anordnung, welche ein offenes Saalsystem ist und mehrere Sektionen beinhaltet. Mit Ausnahme der Lunch-Zeit nehmen die Angestellten nie willkürlich Plätze ein und führen keine Kaffeegespräche, wie das in Europa manchmal passiert. Freilich gibt es auch kleinere Büros mit lockerer Atmosphäre, aber in großen Unternehmen, Ämtern oder Banken herrschen bestimmte Regeln. In der Mehrzahl tragen die betreffenden Angestellten Business-Kleidung und/oder Anzüge.
Die Japaner reden gerne und deshalb dauern die Beratungen gewöhnlich ziemlich lange. Die Folgerungen werden noch mehrmals vervollkommnet und am Ende per e-mail den Betreffenden übermittelt. Derlei Nachrichtenverkehr ist überall üblich, auch inmitten der Angestellten einer Saalfläche. Gewiss gibt es wenig Gespräche über Politik und das Privatleben, oder private Anrufe und Fremd-Besuche an Arbeitsplätzen.
In Japan arbeitet man gewöhnlich in der Zeit von 9:00 bis 18:00 Uhr, manchmal – mit zusätzlichen Abend- oder Nachstunden. Die Anfahrt in Tokio – üblicherweise mit Bahn und U-Bahn – kann schnell mal 1,5 Stunden dauern. Die Angestellten beschränken auch ihre Urlaubszeit. Der Job hat für die Japaner ein sehr hohes existenzielles Gewicht. Hier gibt es sogar einige charakteristische Redewendungen, wie z. B. otsukaresamadeshita – Dank für gemeinsame Arbeit. Die Arbeitsmoral ist in Japan weiterhin sehr hoch und volle Arbeitsanstrengung – isogashī – ist hier normal. Anderseits sind die Unternehmen um ihre Angestellten besonders besorgt – recht umfangreiche Sozialleistungen wie Erholungsreisen und Freizeitausgänge, Krankenversicherungen, Erstattung der Anfahrtskosten usw. Es gibt auch bis heute kein hire and fire.
Obwohl Japan ein säkularer Staat ist, werden dort weiterhin einige traditionelle Rituale befolgt. Auf der Baustelle sind die Shintō-Feierlichkeiten üblich – Einweihung und Grundsteinlegung – jichinsai, sowie am Neujahr oder am Anfang des fiskalischen Jahres. Es werden dann die Shintō-Schreine und die buddistischen Tempel von Vertretern der Firma öffentlich besucht.
Wissenswertes zum japanischen Bau-Arbeitsmarkt im Überblick:
- erforderliche Papiere: Um in einer japanischen Baufirma als Ingenieur beruflich tätig zu sein, ist der Besitz eines Hochschuldiploms – wenigstens des Fachingenieurs – nötig; der Abschluss einer japanischen Hochschule kann ein Vorzug sein. Nützlich sind auch Fremdsprachkenntnisse.Die Absicht als Angestellte(r) einer Firma zu arbeiten, sollte dieser noch während des Studiums kundgetan werden. Dabei ist später das Bestehen einer beruflichen und allgemeinsprachlichen (Englisch-)Prüfung die Pflicht. Ist man von der Firma angestellt, muss man die beruflichen Berechtigungen erwerben. Es gibt ihrer zwei:1. Registrierter Beratender Ingenieur (Registered Consulting Engineer) und2. Registrierter Beratender Manager (Registered Consulting Manager).Der erste – gijutsushi – ist ein staatlicher Titel, verliehen auf Grund eines entsprechenden Gesetzes (Registered Engineers Law – gijutsushi-hō). Es betrifft nicht nur Bauingenieure, aber auch die der anderen Fachbereiche (Elektriker, Chemiker, usw.). Um die Bewerbung einzuleiten, muss man wenigstens 7 Jahre Berufspraxis haben und ein schweres Examen bestehen (Erfolgsquote – ca. 14 %). Nach erfolgreicher Prüfung muss man die Registrierung am staatlichen Amt vollziehen. Die Architekten müssen, um Registrierter Architekt zu werden (1. und 2. Klasse) – kenchikushi – ein anderes Examen, aufgrund des Registered Architects Law – kenchikushi-ho, bestehen. Es ist merkwürdig, dass dabei kein Hochschuldiplom verlangt wird.Der zweite Titel wurde durch die Japan Civil Engineering Consultants Association 1991 eingeführt. Er betrifft Bauleiter und Überwachungsingenieure (Supervising Engineers), sowie Prüfingenieure (Verification Engineers).
- praktische Hinweise für Einreise und Alltag: Für die Arbeit in Japan benötigt man ein Visum, das mit Hilfe des Mutterunternehmens (Visa Sponsor) beantragt werden kann. Dies ist gewöhnlich ziemlich umständlich, weil es dabei 27 verschiedene Visumsarten gibt. Die Zuerkennung verlangt, dass der Ingenieur einen Wissenschaftlichen Grad hat, oder wenigstens eine zehnjährige Berufspraxis. Die Visumfrist kann ein- oder dreijährig sein.Das Leben in Japan ist ziemlich bequem, da alles sehr gut organisiert ist. Der Europäer kann nur durch die Wohnungsverhältnisse überrascht werden, da Wohnungen (Tokio) sehr klein und teuer sind. Bei Erledigung aller Formalitäten ist es wünschenswert, Hilfe von Japanern zu haben. Später wäre es gut, die Grundlagen der japanischen Sprache zu beherrschen (geringe Englischkenntnisse auf der Straße …).
- offene Stellen in welchen Bereichen: Im Hinblick auf das negative Bevölkerungswachstum und die zunehmende Alterung der Gesellschaft sind in Japan Arbeitskräfte im Bereich der Medizin und der Pflege erwünscht. Zurzeit kann auch in der elektronischen, sowie Schwer- und Automatenindustrie Arbeit gefunden werden. Auch die Informatiker, Bauexperten und Bürospezialisten, samt verschiedener Dienstleistungen, sind begehrt.
- Gehälter: Der Mindestlohn der Arbeitnehmer in Tokio beträgt 869 JPY/Stunde (höchster in Japan). Das monatliche Gehalt eines Bauarbeiters beträgt durchschnittlich 350.000 JPY für Männer und 230.000 JPY für Frauen (2013). Die höchsten Löhne gibt es in der Altersgruppe 50 – 54 Jahre. Die Männer verdienen dann durchschnittlich 450.000 JPY und die Frauen 270.000 JPY (2013). Die Arbeitslosigkeit liegt bei 3,5 % (2014).
- Steuern: Die Steuern werden automatisch vom Gehalt abgezogen und liegen je nach dessen Höhe im Bereich von 5 – 33 %.Für die folgenden jährlichen Einkommen lauten sie:1.950.000 JPY oder weniger – 5%;von 1.950.000 auf 3.300.000 JPY – 10%;von 3.300.000 auf 6.950.000 JPY – 20%;von 6,950.000 auf 9.000.000 JPY – 23 %von 9.000.000 auf16.920.000 JPY – 33%.
momentum
Welche Rolle spielt der Humor am Arbeitsplatz und wie unterscheidet er sich von unseren diesbezüglichen Vorstellungen?
Kido
Die Japaner lieben es zu lachen, aber das Lachen bedeutet nicht immer nur Heiterkeit. Oft ist es ein Tränenschleier, wie z. B. bei Versagen oder Niederlage. Nach der Arbeit, in den Abendstunden, werden öfters Gesellschaftstreffen nomikai in izakaya-Räumen veranstaltet, wo es stets heiter zugeht. Die Japaner haben jedoch einen ganz anderen Sinn für Humor. Japanische Witze beziehen sich nie auf die kaiserliche Familie und, in der Regel, auch nicht auf Politik. Die Japaner verstehen wohl über gleichwertige oder niedrigere Kollegen zu scherzen. Es gibt auch Situationskomik, aber niemals hörte ich Witze, die gegen eine konkrete Nationalität gerichtet gewesen wären. Am Arbeitsplatz spürt man fast keinen Humor.
momentum
Wie würden Sie die aktuelle Situation der Bauwirtschaft in Japan beschreiben?
Kido
Nach einer kurzen Zeit des Wirtschaftswachstums erfährt Japan seit 2012 abermals eine Krise. Es gibt weniger Bauvorhaben und Nachfrage nach Wohnraum. Dabei leiden mehr die kleinen Unternehmen. Heute ist man mehr an Immobilien der s. g. Intelligenten Städte (Smart Cities) interessiert und an elektrisch betriebenen Kraftwagen. Natürlich muss man besonders auch Naturkatastrophen in Rechnung stellen. Es gibt eine Menge von Renovierungsprojekten öffentlicher Infrastruktur. Viele Brücken und Tunnels werden z. Zt. ertüchtigt und für ein Erdbeben wie im Jahr 2011 abgesichert. In Tokio sieht man viele Baustellen. Alte Gebäude werden abgebaut und neue erstellt – mit Hilfe der modernsten Technologie. Als Beispiel kann hier der riesige Komplex des Zentralbahnhofs in Tokio genannt werden.
Auf ein Wort:
Ich arbeite in Japan durchgehend seit 1995. Früher studierte ich an der University of Tokyo (Tōkyō daigaku). Derzeit, neben meiner Stellung in der CTI Engineering, Ltd. Consulting Engineers (Kensetsu gijutsu kenkyujo), halte ich auch Vorträge an der Tokyo City University (Tōkyō toshi daigaku). Ungeachtet der Kulturdifferenzen, habe ich keinerlei Unbehagen – habe meine Arbeit und die mich umgebenden Leute sehr gern. Echte Genugtuung fühle ich immer bei der Entwurfsarbeit. Es ist angenehm, wenn aus den Vorschlägen der ganzen Firma meine angenommen werden, und auch deren Verwirklichung bereitet Freude.
Ich war bei verschiedenen Infrastrukturprojekten tätig – Brücken, Staudämme, Flüsse, Parkanlagen, Landnutzung, Unterführungen, Straßen und Autobahnen. Meine Chefs und Kollegen waren immer nachsichtig bezüglich meiner Sprachfehler. Ich hatte auch stets Gelegenheit zu schöpferischer, konzeptioneller Arbeit und offenen Raum für persönliche Entwicklung und Wissenserweiterung. Ich habe die wissenschaftliche Seite meiner Pflichten besonders gern. Zurzeit setze ich meine Universitätsuntersuchungen zur Brückenästhetik als Ästhetik der Infrastrukturobjekte ausführlich fort. Insbesondere betrifft das die Bahnhofsgebäude. Sonst ist auch die zeitgenössische japanische Architektur mein besonderer Interessengebiet.
Die Kehrseite der Arbeit in Japan ist das System, nach dem die Angestellten nach Erreichen eines bestimmten Alters niedrigere Löhne erhalten als zuvor. Schwer fallen auch die Umzüge im Büro (hikkoshi). Sie finden jedes Frühjahr um den 1. April statt und sind mit dem Beginn des fiskalischen Jahres verbunden. Dabei sind oft Änderungen in der Firmenverwaltung und -organisation, sowie – Bewegungen im Personal, üblich.
So also konnte ich in den 20 Jahren meiner Beschäftigung an vielen Schreibtischen sitzen und manche „Umwelt“-Ereignisse erfahren. Beim Bau des neuen Gebäudes der polnischen Botschaft in Tokio konnte ich „live“ erleben, wie unterschiedlich zu denen des Abendlandes die Kennzeichen japanischer Kultur sind; oft verstehen die Europäer davon nichts. Es mag humoristisch klingen, aber wenn der Angerstellte Nachstunden zu leisten hat und dabei im Büro einschläft, ist es nur ein Zeichen, dass er schwer arbeitet. Besonders komplex sind die Pflichten der Ingenieure auf der Baustelle, weil sie – bei üblicher Aufsicht – auch termingerecht die Detailzeichnungen vorbereiten müssen.
Interessante Links: