Rezension
Wohnen wie in Wien

2000 Jahre Wohnen in Wien, Vom keltischen Oppidum bis zum Wohnquartier der Zukunft. Wohnen als Sozialgeschichte. Wolfgang Förster (Hg.) Hardcover, 188 Seiten, zahlr. Abb. 19 × 24,5 cm Deutsch/Englisch, Berlin 2020, 32.,- € ISBN 978-3-86859-661-8 (Foto / Abb.: Jovis-Verlag)
„’Wie glücklich, wer jeden Tag Wien vor Augen hat und nie aufhört, all die Dinge zu sehen, die es enthält!’ rufst du aus, voller Wehmut, die Stadt verlassen zu müssen. (…)
Doch es trifft sich, dass du in Wien bleibst und hier den Rest deiner Tage verbringst. Gar bald verblasst die Stadt vor deinen Augen, (…). Wie alle Einwohner von Wien verfolgst du Zickzacklinien von einer Straße zur anderen, (…) Der ganze Rest der Stadt ist unsichtbar. Wien ist ein Raum, wo Wegstrecken zwischen Punkten verzeichnet werden, die im Leeren hängen. (…) Deine Schritte gehen nicht dem nach, was außerhalb der Augen, sondern was in ihnen ist, begraben und gelöscht.“ Der – leider wohl schon etwas vergessene – italienische Schriftsteller Italo Calvino schrieb dies in seinem allen Stadtplanern empfehlenswerten Roman „Le città invisibili“ (dt.: Die unsichtbaren Städte), freilich nicht über Wien, sondern die fiktive Stadt „Fillide“. Als er dies 1972 aufschrieb, waren Städte noch deutlich sichtbarer als heute, da Diskurse über „Architektur für den anonymen Raum“ ernstlich Beachtung finden. Calvino setzte damals schließlich noch den Artikel vor die „unsichtbaren Städte“, als gebe es auch sichtbare. In einem schlichten Sinne gibt es die selbstredend auch heute noch, doch darf die These gewagt werden, dass ihre Sichtbarkeit in engem Konnex mit ihrer Bewohnbarkeit stehen könnte – und damit sind wir bei: 2.000 Jahre Wohnen in Wien – Vom keltischen Oppidum bis zum Wohnen der Zukunft. Wohnen als Sozialgeschichte.

Wiener Kinder beim Fußballspielen. Im Hintergrund der von Karl Ehn geplante und 1930 eröffnete Karl-Marx-Hof, das Synonym für den Wiener Gemeindebau. Foto: Lothar Rübelt, 1932, Rübelt Negativarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (Foto / Abb.: Jovis-Verlag)
Neues soziales Wohnen
Das Buch stellt den dritten, rühmlichen Versuch des Jovis-Verlags dar, das Wiener Modell hierzulande bekannter zu machen, dem der Verlag mit dem Herausgeber aller drei Bände und Autor dieses Bandes, Wolfgang Förster schon zwei Bände widmete, die man am besten zur Hand hat, wenn man diesen liest. Denn etwas geringschätzig ließe sich dieser Band als historischer Aufguss dessen lesen, was die beiden ersten Bände anhand der jüngsten Entwicklungen im Wiener Wohnungsbau durch zahlreiche, für alle Nicht-Wiener aufschlussreiche Stadtentwicklungsprojekte als „Neues soziales Wohnen“ dokumentieren.
Und entnähme man allen drei Bänden nicht mehr, als dass die österreichische Hauptstadt seit den 1920er Jahren abseits des – in Wien freilich ungleich neoliberaleren – „freien“ Marktes ein – zumindest Europa weit – einzigartiges System des geförderten Wohnungsbaus etablierte, verstünde man zumindest, wie glücklich der sein kann, der als Wohnender jeden Tag Wien vor Augen hat.
60 Prozent der Bevölkerung dieser Stadt leben in gefördertem Wohnungsbau – während hierzulande Presseberichte zum Wohnungsbau fast stereotyp mit dem Hinweis enden, Investoren für günstigen Wohnraum hätten sich leider nicht finden lassen. Und das führt dann zur inzwischen notorischen Umkehrung des IKEA-Slogans: „Lebst du noch oder wohnst du schon?“ In der ebenfalls im JOVIS-Verlag erschienenen Streitschrift „Ware Wohnen“ weist Christoph Dell darauf hin. „Von der sich im 19. Jh. vollziehenden Produktwerdung des Wohnens“, so Dell, rühre „das ungeklärte Verhältnis her, das wir zu unserer Weise des Wohnens unterhalten.“ Sei, fragt Dell vor dem Hintergrund deutscher Erfahrungen mit Wohnungsbau, „Wohnen ein Geschäft? Ist es ein Teil der Daseinsfürsorge? Ist es ein Gut der Allgemeinheit? Ist es Lifestyle? Ist es Schutzraum? Ist es Schauraum? Was ist mit dem Wohnen los?“
Zweitgrößte Stadt des Heiligen Römischen Reichs
Die beiden Bände zum Wiener Modell, sowie das nun aktuell erschienene 2.000 Jahre Wohnen in Wien geben sehr konkrete Antworten auf Dells Fragen. Wobei sich Zweifel einschleichen könnten, ob letzterer Band dem Anspruch „Wohnen als Sozialgeschichte“ darzustellen, gerecht wird. Gibt er doch einigermaßen faktenhuberisch eher die Totale auf die Stadtgeschichte Wiens, statt das Großbild zu zeigen, das freilich vereinzelt aufleuchtet, wenn man etwa erfährt, dass am 12.3.1421 200 Juden in Wien verbrannt wurden, um das Wohnungsproblem in der im 15. Jh. mit 20.000 Einwohnern nach Köln zweitgrößten Stadt im Heiligen Römischen Reich zu lösen. (S.30)

Wien im frühen Mittelalter von der Donau aus gesehen. Aus: Kisch, Wilhelm: Die alten Strassen und Plätze Wien’s und ihre historisch interessanten Häuser, Wien, Gottlieb, 1883. (Foto / Abb.: Jovis-Verlag)
Interessant auch die Auslassungen Försters zum mittelalterlichen Hochhausbau wegen Platzmangels in der Stadt; oder zu dem Umstand, dass erst im Jahr 1333 ein Verbot erlassen wurde, Fäkalien und tote Tiere auf die Straße zu werfen. (S. 34) Noch im 17. Jh. sollen Diplomaten aus dem Osmanischen Reich über den unerträglichen Gestank in der Stadt geklagt und um Versetzung gebeten haben. Wiederholte große Seuchen waren in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich, doch waren auch dafür wieder schnell die Schuldigen gefunden: neben dem allgemeinen moralischen Verfall (im 17. Jh.!) wieder: die Juden. (S. 34)
En passant lernt man bei Försters Parkour durch 2.000 Jahre Wiener Stadtgeschichte dankbar die Mär von Mozarts vergessenem und verarmten Sterben als solche kennen. Der Komponist wohnte zuletzt in einer für seine Zeit ausgesprochen überdimensionierten, teuer zu mietenden Wohnung von 142 m². (S. 42)
67 Umzüge
Wichtiger unterdessen der eine der zahlreichen Gelenkstellen zum Sozialen Wohnungsbau bildende Hinweis, dass es noch in Metternichs Polizeistaat „keinerlei Mieterschutz gab und Kündigungen jederzeit und ohne Angaben von Gründen erfolgen konnten.“ Häufige Wohnungswechsel waren also an der Tagesordnung, von denen die angeblich 67 Umzüge Beethovens in der Stadt Zeugnis ablegen. (S. 46)
Dennoch etablierte sich mit der Rückkehr des Wohlstandes unter diesem Regime eine „neue Kultur der Häuslichkeit“, in der die heute so fraglich gewordene „geschützte häusliche Umgebung“ zum politisch notorischen „Rückzugsort“ wurde. „Das mittlere Bürgertum“, so Förster, „wohnte nun mehrheitlich zur Miete.“ (S. 46)
Mit dem ausgehenden 19. Jh. erreicht Förster schließlich die konkreteren Wurzeln des heutigen sozialen Wohnungsbaus in der Donaumetropole. Sozial sei die Stadt in den 1890er Jahren gespalten wie nie zuvor gewesen und der Wohnungsbau in der rasant wachsenden Stadt war weiterhin komplett dem privaten Markt überlassen, wobei freilich im Jahr mehr als 10.000 Wohnungen errichtet wurden. (S. 54) Doch während die Wiener Gründerzeit mit Palast-Fassaden im Stil der Neorenaissance protzte, verbarg sich dahinter das Elend der hoffnungslos überbelegten „Substandardwohnungen“, die Adolf Loos von einer „Potemkinschen Stadt“ sprechen ließen. Hierbei hat man sich zu vergegenwärtigen, dass Wien selbst in den bürgerlichen Wohnstandards hinter der Entwicklung anderer Großstädte zurückblieb. (ebd.)

Der Hauptfluss der Donau um 1956: Das große Areal des Nordbahnhofs (links unten) ist mittlerweile zu einem Wohngebiet geworden. Anstelle des Überschwemmungsgebietes nördlich der Donau befinden sich heute Wiens größte Naherholungsgebiete die Donauinsel und die „Neue Donau“, während rund um die Alte Donau (rechts) schon früh Wohngebiete entstanden, darunter mit dem Goethe- Hof einer der „Superblocks“ des Roten Wien. (Foto: Open Government Wien, MA 41)
Vorschläge zur Bodenreform
Gleichwohl konnte sich – und das ist ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzender Punkt – in diesen bürgerlich liberalen Zeiten, denen die Sichtweise auf Armut als Folge persönlicher Unfähigkeit fraglos war, eine Wohnungsreformdebatte entwickeln. Förster schreibt diese primär dem Ökonomen Eugen von Philippovich zu, „da selbst die ‘Hausherrenpartei’ der Christlich-Sozialen … sich stark an seinen Vorschlägen zu einer Bodenreform orientierten“ (ebd.), die zu einer Grundlage des Wiener Modells werden sollte, und von aller neoliberalen Wohnungsbaupolitik bis auf den heutigen Tag abgelehnt wird. Die Christlich-Sozialen unterdessen sahen damals „die Wohnungsreformdebatte als Mittel der sozialen Integration des ‘unsittlichen’ Proletariats“ an. (ebd.)
Die Sozialdemokratie, so Förster, habe lange eine Beseitigung des Wohnungselends auf die Zeit nach einer sozialistischen Revolution verschoben. Erst im Wiener Kommunalprogramm im Jahr 1900 habe sie unter Punkt 10 den Bau von Arbeiterwohnhäusern verlangt. (S. 60)
Der 1907er Parteitag schließlich klagte dann u. a. die – jahrzehntelang verschleppte – Reform der Bauordnung ein und verlangte mit Blick auf die Zukunft Steuermaßnahmen sowie die Unterstützung gemeinnütziger Baugenossenschaften, die es etwa in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden schon gab. (ebd.) Bemerkenswert auch, dass eine weitere Forderung der Besteuerung von Spekulationsgewinnen galt … (S. 62)
Von hier aus dekliniert Förster dann die gesamte weitere Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus in Wien durch und von hier aus empfiehlt es sich, als seien alle drei Bände in umgekehrter zeitlicher Reihe erschienen, die beiden – üppig und ansprechend bebilderten – vorausgehenden Bände zum Wiener Modell zu konsultieren. Es lässt sich dann erkennen, welche in keiner anderen Stadt des Kontinents so zu findenden wohnungsbaupolitischen Früchte die hier nur kurz umrissenen – wie auch immer allgemeinpolitisch dubios bis fragwürdigen – Grundlegungen für das Wohnwohl von runden 60 Prozent der Wiener zeitigen.
Versöhnung von Gemeinschaft und Gesellschaft
Aus den fünf Exkurses im Aufbau des Bandes sei hier der dritte hervorgehoben, dem es – siehe Christlich-Soziale und Proletariat oben – nun unter zeitgenössischen Vorzeichen um Integration zu tun ist. Als „wirklich entscheidend für Kommunikation und Integration“ erkennt der Autor hier „eine Verschränkung von baulicher ‘Hardware’ (das englische ‘bricks and mortar’ (dt.: Backsteine und Mörtel) und ‘Software’ im Sinne eines Angebots zu gemeinschaftsbildenden Aktivitäten. Was hieran eventuell sozial abstrakt gedacht ist, verweist nicht nur auf das nicht ganz Neue dieser Ideen in aller Stadtquartiersplanung. Ziel sei das „Empowerment“ der Bewohner, um deren Konfliktlösungsfähigkeiten zu stärken. (S. 154) Darauf, dass solche Konzepte schon in den notorischen Trabantenstädten der 70er Jahre sang- und klanglos scheiterten, wird hier nicht eingegangen und es ergibt sich höchstens die Frage, ob derlei Einwand eine spezifisch deutsche Sichtweise verrät.

Bloch-Bauer-Promenade im Sonnwendviertel. Das Ergebnis eines Masterplans mit folgendem kooperativen Planungsverfahren und einzelnen Bauträgerwettbewerben (Foto: MVD Austria)
Diesen Verdacht könnte das elfte, und bis auf eine Nachbemerkung letzte, Kapitel des Buches unter dem Titel „Wiens Wohnen in der Zukunft: braucht Wien noch Wohnbau?“ erhärten, das auch den Konnex zu den einzelnen Vorstellungen Wiener Wohnungsbauquartiere der beiden vorherigen Bände schafft. Förster geht hier unter Verweis auf die Entwicklung des Bürobaus, in welchem die klare Trennung von privaten Arbeitsbereichen und gemeinschaftlichen Flächen allmählich verschwinde, auf die Frage ein, „ob es die klassische Wohnung als privates, abgesondertes Heim in Zukunft überhaupt noch geben“ werde. Die Frage also, ob sich die klassische Wohnung selbst auflösen werde. Der Autor geht hier so weit, zu konstatieren, dass sich in vielen neuen Planungen, von denen u. a. im zweiten Exkurs zur IBA-Wien 2020 – 22 Erwähnung getan wird, „eine ‘Versöhnung’ von Gemeinschaft und Gesellschaft“ andeute, wo Grenzen zwischen privat, halböffentlich und öffentlich aufbrächen. (S. 158) Und es lässt sich nach Lektüre aller drei Bände schwer bestreiten, dass sich, so Förster, „gerade in Wien hierfür Rückgriffe auf ältere Modelle solidarischen Wohnens“ anböten – „wie jene der Wiener Siedlerbewegung, der frühen Genossenschaften, der Gemeinschaftsräume in den Superblocks des Roten Wien, der ersten Baugruppen …“ Der so offensichtliche – wie von Förster nicht problematisierte – Paradigmenwechsel der Architektur – less aesthetics, more ethics – dürfte seiner Auffassung nach eine solche Entwicklung begünstigen. Ohne das eventuell folgenreich Problematische dieser Sichtweise hier ausbreiten zu können, sei immerhin auf einen 1889 geborenen großen Sohn der Stadt verwiesen. Für ihn, Ludwig Wittgenstein, galt: „Ästhetik = Ethik“.
Doch soll hier keinesfalls in Abrede gestellt werden, dass die sich für Förster hier ergebenden Fragestellungen, die das Kapitel umfänglich auflistet, von höchster Relevanz sind und der Aufmerksamkeit des Lesers besonders empfohlen seien.
Beinahe tragisch, wie so vieles auf pandemischen Epochenschwellen, ist dabei der Umstand, dass das Buch vor Auftreten der COVID-Viren verfasst wurde. Das Automobil als „Autostabil“ – oder „Stehzeug“ (siehe Rezension „Ausfahrt“ zu „No Car“ auf dieser Seite) ist für die Majorität derzeit unverzichtbarer denn je, noch wenn es die meiste Zeit ungenutzt dastehend das Stadtbild zerstört. Entsprechend werden, wie die Stehzeuge zum Fahren, die Wohnungen aktuell eben nicht immer weniger zu Wohnzwecken genutzt, wo sich via Home-Office die Renaissance der mittelalterlichen Einheit von Wohn- und Arbeitsplatz ergibt.
Mehr Konjunktiv
Wolfgang Förster hat seinem Buch ein schönes Motto Salvatore Settis’ aus „If Venice dies“ vorangestellt: „Jede Stadt ist das Ergebnis einer enormen Zahl von Entscheidungen, die in einer großen Zeitspanne gemacht wurden, Entscheidungen, die an jeder Weggabelung anders getroffen worden sein könnten. So beinhaltet jede Stadt eine Anzahl von Städten: die Stadt, die sie einst war ebenso wie all die Städte, die sie gewesen sein könnte, doch niemals wurde.“ – Vom keltischen Oppidum bis zum Wohnquartier der Zukunft.
Hatte das keltische Oppidum mehr Konjunktiv in sich, um den es diesem Motto zu tun ist, als die heutige, unsichtbare Stadt mit less aesthetics – more ethics?
In „le città invisibili“ rät Italo Calvino bezüglich der fiktiven Stadt Maurilia, uns davor zu hüten, … „zu sagen, dass zuweilen verschiedene Städte auf demselben Boden und mit demselben Namen aufeinander folgen, entstehen und vergehen ohne gegenseitige Mitteilbarkeit.“ Manchmal blieben auch die Namen der Einwohner und der Klang der Stimmen und sogar die Gesichtszüge die gleichen; doch die Götter, die unter den Namen und über den Orten thronten, seien wortlos gegangen, und an ihrer Stelle hätten sich fremde Götter ohne Beziehung zu den vorherigen eingenistet. „Wie auch“ beschließt Calvino diese Betrachtung, „die alten Ansichtskarten nicht Maurilia darstellen, wie es war, sondern eine andere Stadt, die zufällig auch Maurilia hieß wie diese.“ – Mit „2.000 Jahre Wohnen in Wien hat Wolfgang Förster „Wohnen als Sozialgeschichte“ versprochen, nicht eine „Sozialgeschichte des Wohnens“. Das macht das Buch nicht weniger lesenswert – nur war das keltische Oppidum so wenig Wien wie das Wohnquartier der Zukunft, auch wenn – nota Calvino bene – beide zufällig so heißen.