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Historie, Vermischtes

Zum 150. Geburtstag von August Hertwig

August Hertwig im Alter von 70 Jahren

August Hertwig im Alter von 70 Jahren (Klöppel u. Pohl, 1943, S. I)

Der am 20.3.1872 in Mühlhausen als Sohn eines Fabrikanten geborene August Hertwig nahm Ende 1890 ein Architekturstudium an der TH Berlin auf, wechselte aber schon im ersten Studienjahr zum Bauingenieurwesen. Nach der ersten Staatsprüfung 1894 arbeitete Hertwig unter Karl Bernhard (1859-1937) im Brückenbauamt Berlin, erstellte Brückenbücher für die oldenburgische Eisenbahndirektion, wirkte als Assistent bei Guido Hauck (1845-1905), Siegmund Müller (1870-1946) und Heinrich Müller-Breslau (1851-1925) und absolvierte die zweite Staatsprüfung zum Regierungsbaumeister im Sommer 1898. Danach übernahm Hertwig die statische Berechnung und Konstruktion der Gewächshäuser des Botanischen Gartens Berlin.
Auf Empfehlung Müller-Breslaus erhielt Hertwig 1902 die Professur für Statik der Baukonstruktionen (zu der alsbald der Eisenhochbau hinzukam) an der TH Aachen (heute: RWTH Aachen) und wurde damit einer der jüngsten Professoren Deutschlands; zu diesem Zeitpunkt konnte er keine Veröffentlichung vorweisen. Von 1909-1911 und 1915-1917 bekleidete Hertwig das Amt des Rektors der TH Aachen. Auch wirkte er als Stadtverordneter Aachens. An der TH Aachen lehrte und forschte er bis 1924, wurde alsdann Nachfolger Müller-Breslaus an der TH Berlin, erhielt die Ehrendoktorwürde der TH Darmstadt und wurde 1926 Mitglied der Akademie des Bauwesens. Den Berliner Lehrstuhl hatte Hertwig bis 1937 inne. Dort entwickelte er sich zur Vaterfigur, zum Haupt der weitverzweigten Familie der von Emil Winkler (1835-1888) und Müller-Breslau begründeten Berliner Schule der Baustatik, wirkte von 1928 bis 1938 als Schriftleiter der im April 1928 vom Verlag Wilhelm Ernst & Sohn aus der Taufe gehobenen Zeitschrift Der Stahlbau (heute: Stahlbau im Verlag Ernst & Sohn) und arbeitete als Mitherausgeber für das Ingenieur-Archiv, dessen erste Ausgabe im Dezember 1929 im Verlag von Julius Springer erschien.
Hertwig veröffentlichte auch zur Geschichte der Technischen Kulturdenkmale im Bauwesen (1932), der Baustatik (1906 u. 1941) und der Bautechnik (1934/1, 1934/2 u. 1935), des technischen Hochschulwesens und förderte dynamische Baugrunduntersuchungen (1933). Zu seinen Schülern gehörte u.a. der Protagonist der Grundbaudynamik Hans Lorenz (1905-1996).
Auf Anregung des VDI-Direktors Conrad Matschoß (1871-1942) übernahm Hertwig in Berlin den Vorsitz der technikgeschichtlichen Arbeitsgemeinschaften des VDI (heute: VDI-Arbeitskreise Technikgeschichte) und wurde so zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Vertreter der Bautechnikgeschichte in ihrer Vorbereitungsperiode.
1941 fiel sein einziges Kind Rolf der Euthanasie zum Opfer. Ein Jahr später verlieh ihm Adolf Hitler die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft.
Kurz nach dem II. Weltkrieg übernahm Hertwig an der TU Berlin den Stahlbaulehrstuhl von Ferdinand Schleicher (1900-1957), den dieser wegen Mitgliedschaft in der NSDAP verlassen mußte. Hertwigs unveröffentlichten maschinenschriftlichen Lebenserinnerungen (1947) können als „Rechenschaftsbericht einer konservativen Ingenieurpersönlichkeit zwischen Scylla und Charybdis zweier Weltkriege“ (Kurrer, 2004) gelesen werden.
Am 14.4.1955 schlossen sich Hertwigs Augen für immer. Kurt Klöppel (1901-1985) hob nicht nur Hertwigs vornehme Haltung hervor, sondern auch seinen tapferen und offenen Kampf für Wahrung der Gerechtigkeit und Sachlichkeit ohne Ansehen der Person (Klöppel, 1955).

Wichtige Veröffentlichungen:
Beziehungen zwischen Symmetrie und Determinanten in einigen Aufgaben der Fachwerktheorie (1905);
Die Entwicklung einiger Prinzipien in der Statik der Baukonstruktionen und die Vorlesungen über Statik der Baukonstruktionen und Festigkeitslehre von G. C. Mehrtens (1906)
Über die Berechnung mehrfach statisch unbestimmter Systeme und verwandte Aufgaben in der Statik der Baukonstruktionen (1910)
Die Lösung linearer Gleichungssysteme durch unendliche Reihen und ihre Anwendung auf die Berechnung hochgradig unbestimmter Systeme (1912)
Einige besondere Klassen linearer Gleichungen und ihre Auflösung in der Statik der durchlaufenden Träger und der Rahmengebilde (1917/1)
Die Fehlerwirkungen beim Auflösen linearer Gleichungen und die Berechnung statisch unbestimmter Gebilde (1917/2)
Die Hochschulreform (1930/1)
Johann Wilhelm Schwedler. Sein Leben und sein Werk (1930/2)
Die Statik der Baukonstruktionen (1931)
Bauwesen (1932)
Das „Kraftgrößenverfahren“ und das „Formänderungsgrößenverfahren“ für die Berechnung statisch unbestimmter Gebilde (1933)
Die Ermittlung der für das Bauwesen wichtigsten Eigenschaften des Bodens durch erzwungene Schwingungen (1933)
Aus der Geschichte der Straßenbautechnik (1934/1)
Aus der Geschichte der Gewölbe. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte (1934/2)
Die Eisenbahn und das Bauwesen (1935)
Die Entwicklung der Statik der Baukonstruktionen im 19. Jahrhundert (1941)
Leben und Schaffen der Brückenbauer der Deutschen Reichsbahn Schwedler, Zimmermann, Labes und Schaper. Eine kurze Entwicklungsgeschichte des Brückenbaus (1950)
Rede, gehalten bei der Gedenkfeier für Müller-Breslau am 15. Juni 1925 in der Aula der Technischen Hochschule Charlottenburg (1951)

Zum Weiterlesen:
Klöppel, K.; Pohl, K.: August Hertwig. In: Forschungshefte aus dem Gebiete des Stahlbaues, Heft 6. Beiträge zur Baustatik, Elastizitätstheorie, Stabilitätstheorie, Bodenmechanik, hrsgn. v. Deutschen Stahlbau-Verband, S. III-V. Berlin: Springer-Verlag 1943.

Klöppel, K.: Geheimrat Prof. Dr.-Ing. E. h. August Hertwig. Schriftleiter der Zeitschrift „Der Stahlbau“ von 1928 bis 1938. In: Der Stahlbau, 24 (1955), H. 6, S. 121-122.

Kurrer, K.-E.: August Hertwigs Lebenserinnerungen (1947): Rechenschaftsbericht einer konservativen Ingenieurpersönlichkeit zwischen Scylla und Charybdis zweier Weltkriege. In: Technik und Verantwortung im Nationalsozialismus, hrsgn. v. Werner Lorenz u. Torsten Meyer, S. 109-142. Münster: Waxmann Verlag 2004.

Kurrer, Karl-Eugen: The History of the Theory of Structures. Searching for Equilibrium. Berlin: Ernst & Sohn 2018.

Leserkommentare

  1. Joachim Schwerdt | 20. März 2022

    Lieber Herr Dr. Kurrer,
    seit zwei Jahren sind wegen Corona keine Vorträge im Technikmuseum möglich. Es freut mich dass wir übers Internet
    wieder interessante Informationen durch Sie erhalten.
    Mit besten Grüßen
    Joachim Schwerdt

  2. Karl-Eugen Kurrer | 22. März 2022

    Lieber Herr Schwerdt,

    haben Sie vielen Dank für Ihre ermutigenden Worte. Der Arbeitskreis “Technikgeschichte” des VDI-Bezirksvereins Berlin-Brandenburg bemüht sich, über online-Vorträge das Interesse an der Geschichte der Technik wachzuhalten. So haben wir in diesem Jahr bis heute 5 online-Vortragsveranstaltungen durchgeführt – weitere folgen (die nächste findet am 31.3.2022 statt). Die Vorträge unseres Arbeitskreises werden u.a. über das online-Magazin “momentum” kommuniziert, wofür wir der Redaktion danken. Wir würden uns freuen, wenn Sie am nächsten Vortrag teilnehmen würden.

    Beste Grüße
    Karl-Eugen Kurrer, VDI

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Datum 20. März 2022
Autor Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h. Karl-Eugen Kurrer
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