Historie
Zum 150. Geburtstag von Robert Maillart
Der am 6.2.1872 geborene Robert Maillart wuchs in einer calvinistischen Familie in Bern auf. Schon auf dem Gymnasium in Bern fiel er durch seine mathematische und zeichnerische Begabung auf. Von 1890 bis 1894 studierte er an der ETH Zürich Bauingenieurwesen und hörte u. a. bei Wilhelm Ritter grafische Statik. Nach seinem Diplom arbeitete Maillart bei Pümpin & Herzog (Bern), beim Tiefbauamt der Stadt Zürich und bei Froté & Westermann. Noch bei letztgenannter Firma gelang ihm sein erster Geniestreich: Bei der 1901 fertiggestellten Stahlbetonbogenbrücke in Zuoz verschmolz Maillart die Fahrbahn mit dem Bogen derart, dass ein zweizelliger Hohlkasten entstand. Ein Jahr später gründete er seine eigene Firma. 1903 entwarf Maillart ein Gasbehälterbecken für die Stadt Sankt Gallen und berücksichtigte bei der grafostatischen Schnittgrößenermittlung der in die Bodenplatte eingespannten Kreiszylinderschale aus Stahlbeton erstmals die Biegemomente. Im selben Jahr beobachtete Maillart lange Vertikalrisse im Steg in der Nähe der Widerlager der Stahlbetonbogenbrücke in Zuoz. Dies führte zu dreiecksförmigen Aussparungen in den Kämpferpartien und schließlich 1905 zu der 51 m weit gespannten Dreigelenkbogenbrücke über den Rhein bei Tavanasa.
Wie kein anderer gab Maillart mit seinen Bauwerken in der Konsolidierungsperiode der Baustatik (1900-1950) der Konstruktionssprache des Stahlbetonbaus baukünstlerisch gültigen Ausdruck. Nicht nur seine versteifte Stabbogenbrücken wie etwa die Überbrückung der Landquart bei Klosters im Zuge der Eisenbahnlinie Chur–Davos oder die 1930 fertiggestellte Salginatobel-Brücke bei Schiers (Bild 2), sondern auch seine 1908 entwickelte Pilzdecke nach dem Zweibahnensystem (Bild 3) sind klassische Beispiele für das Fließgleichgewicht zwischen Schönheit und Nutzen in der Bauingenieurkunst: Maillart war Ingenieur im wahrsten Sinne des Wortes. Die Theorie und wissenschaftliche Erkenntnis stellte er ganz in den Dienst der Baukunst: die erste war ihm Mittel, die andere das Endziel. Der Erfahrung räumte er das gleiche Mitspracherecht ein wie der wissenschaftlichen Erkenntnis [Roš, 1940, S. 224].
1912 nahm Maillart als weiteres Tätigkeitsgebiet Russland auf, wo er zwei Jahre später durch den Ausbruch des I. Weltkrieges überrascht und von Riga nach Charkow evakuiert wurde. In Kiew schuf er gewaltige Industriebauten u.a. für die AEG. Nach dem Tode seiner Frau und nach Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 kehrte Maillart mit seinen drei Kindern völlig mittellos in die Schweiz zurück. Gleichwohl konnte Maillart in seiner zweiten Schaffensperiode von 1920 bis 1940 mehr als 160 Bauwerke realisieren, die die strenge Logik und den Formwillen ihres geistigen Schöpfers verkörpern. Sein wichtigster Beitrag zur Baustatik bestand in der Einführung des Begriffs des Schubmittelpunktes und der klaren Formulierung der Grundlagen der Theorie des Schubmittelpunktes in den frühen 1920er Jahren.
Als Robert Maillart am 5.4.1940 in Genf für immer seine Augen schloss verlor der Stahlbetonbau, ein Beton-Virtuose [Marti, 1996] und ein Baugenie. Im Nachruf schrieb Mirko Gottfried Roš (1879-1972): Du warst Ingenieur und Künstler zugleich, denn Dein Glaubensbekenntnis war Ebenmass der Grösse, Schönheit und Wahrheit [Roš, 1940, S. 226].
Wesentliche Beiträge zur Baustatik:
Zur Frage der Biegung (1921/1)
Bemerkungen zur Frage der Biegung (1921/2)
Ueber Drehung und Biegung (1922)
Der Schubmittelpunkt (1924/1)
Zur Frage des Schubmittelpunktes (1924/1 u. 1924/3)
Zur Entwicklung der unterzugslosen Decke in der Schweiz und in Amerika (1926)
Einige neuere Eisenbetonbrücken (1936)
Zum Weiterlesen:
Roš, M.: † Robert Maillart zum Gedächtnis, in: Schweizerische Bauzeitung, Bd. 115, 1940, Nr. 19, S. 224-226.
Marti, P. (Hrsg.): Robert Maillart – Beton-Virtuose. Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, Band 1. Zürich: vdf Hochschulverlag AG 1996.