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Historie

Zum 175. Geburtstag von Ernst Mach

„Das Endziel der Naturwissenschaften ist, (…) sich in Mechanik aufzulösen“, sagte der später als „Reichskanzler der Physik“ titulierte Mitbegründer der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, Hermann von Helmholtz (1821-1894), in seiner Eröffnungsrede „Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft“ auf der Naturforscherversammlung zu Innsbruck (1869).

Seit Isaac Newton (1642-1726) im Jahre 1687 das Jahrtausendwerk „Principia“ veröffentlichte, dort mit drei Axiomen die klassische Mechanik begründete und mit ihrer Hilfe z.B. aufwies, dass der fallende Stein demselben Gesetz gehorcht wie die Bewegung der Planeten um die Sonne, seit diesem revolutionären Einschnitt in das naturtheoretische Denken hat die klassische Mechanik die Welt in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis gemacht. So wurde ihr Erfolg beim Eindringen in die Gesetzmäßigkeiten astronomischer Erscheinungen, ihre mit der industriellen Revolution anhebenden Anwendung und Erweiterung auf das Bau- und Maschinenwesen zum Kriterium der Wissenschaftlichkeit schlechthin. Als erstes Beispiel sei die Entstehung der Baustatik von 1825 bis 1900 angeführt, ohne die solche Ingenieurbauwerke wie die Britannia-Brücke, der Eiffelturm sowie die riesigen Industriebauten und weitgespannten Bahnhofshallen nicht möglich gewesen wären. Mit der Wattschen Dampfmaschine und ihrer wissenschaftlichen Beschreibung durch die sich im selben Zeitraum konstituierenden Thermodynamik eines Sadi Carnot (1796-1832) und Rudolf Clausius (1822-1888) ist das zweite Beispiel genannt: Clausius taufte diese von ihm mitbegründete Wissenschaft auf den Namen „Mechanische Wärmetheorie“, ein Terminus, der auf die Mutterdisziplin Mechanik verweist und erst später durch „Thermodynamik“ ersetzt wurde. Dieser Triumph der Mechanik in der Technosphäre des 19. Jahrhunderts trug maßgebend zum wissenschaftlichen Selbstverständnis des Ingenieurs in Gestalt des „szientifischen Paradigmas“ (Günter Ropohl) bei.

Bild 1. Ernst Mach (1838-1916) (Deutscher Verlag der Wissenschaften)

Ausdruck der hegemonialen Rolle der Mechanik im sich formierenden Wissenschaftssystem nach Newton war die mechanistische Naturphilosophie, welche das Denken der Naturforscher bis an die Wende zum 20. Jahrhundert beherrschte und ihm eine materialistische Richtung gab. Die Auflösung der mechanistischen Naturauffassung erfolgte in erster Linie durch die Kritik der Fundamente von Newtons Mechanik: Herausragendes Beispiel einer solchen philosophisch-naturwissenschaftlichen Kritik ist das Lebenswerk des österreichischen Physikers und Philosophen Ernst Mach (Bild 1).

Der am 18. Februar 1838 in Chirlitz (heute Teil von Brno/Tschechien) als Sohn eines Landwirts und früheren Hauslehrers geborene Ernst Mach bekam von seinem Vater Unterricht bis zu seinem 15. Lebensjahr. Seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse eignete er sich im Selbststudium an. Hauptsächlich als Vorsorge für eine geplante Auswanderung nach Nordamerika gedacht, erlernte Mach das Schreinerhandwerk. Indes, zur Anwendung kam es nicht; stattdessen besuchte Mach das Gymnasium und studierte Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität Wien, wo er 1860 promovierte und ein Jahr später habilitierte. Der frischgebackene Privatdozent für Physik war alles andere als betucht und stoppelte daher seinen Lebensunterhalt durch Autorenhonorare and andere spärlich fließende Geldströme zusammen. „Jez schauns halt, Herr Toktr, dass S‘ bald Professr wern; jez müssn Ihr halt an so a Professr-Menschl ranmachn (…)“, riet ihm der Pedell und fuhr fort: „Sie und der Stefan, sie sein e‘ die Gscheitesten, aber wanns aso furtthuen, bringens ses auf kann grien Zweig nit“. Machs witzige Bemerkung in einem Brief an die Eltern zu des Pedells Rat einer Beschleunigung der wissenschaftlichen Karriere durch „Einheiraten“ in die Professorenkaste: „Ich muss mich erkundigen, ob der Pedell eine Tochter hat, vielleicht ist die Protektion zu brauchen!“ Ohne Protektion wurde Mach, 26jährig, auf den Mathematiklehrstuhl der Universität Graz berufen und erhielt zum Wintersemester 1867/68 das Ordinariat für Experimentalphysik an der Universität Prag.

Bild 2. Momentaufnahmen eines fliegenden Profils von Mach und Salcher (1887)

In Prag entstehen Machs richtungsweisende Arbeiten zur Aero- bzw. Gasdynamik, zur kritischen Geschichte der Physik, zur Sinnesphysiologie und schließlich zum Empiriokritizismus, einer mit materialistischen Elementen unterlegten subjektiv-idealistischen Kritik der mechanistischen Naturphilosophie. Obwohl seine aus einfallsreichen physikalischen Experimenten zum Dopplereffekt in der Akustik, in der Fluidmechanik, in der Optik sowie zum Überschallflug von Projektilen (Bild 2) gewonnenen Erkenntnisse heute zum Grundlagenwissen naturwissenschaftlicher (optischer Dopplereffekt in der Astronomie) und technikwissenschaftlicher Disziplinen (Überschallflugzeug- und Raketenbau) gehört, beeinflusste die fundamentale Kritik der Newtonschen Mechanik in seinem 1883 publizierten Werk „Die Mechanik in ihrer Entwicklung“ das moderne physikalische Denken am tiefsten. Dieses Werk erlebte zahlreiche Auflagen (Bild 3) und Übersetzungen. Kein geringerer als Albert Einstein (1879-1955) – in gewisser Weise der Newton des 20. Jahrhunderts – hob immer wieder die Bedeutung der Machschen „Mechanik“ bei der Entstehung der allgemeinen Relativitätstheorie hervor. So notierte Einstein 1916 in seinem Nachruf auf Mach, dass dieser „die schwachen Seiten der klassischen Mechanik klar erkannt und nicht weit davon entfernt war, eine allgemeine Relativitätstheorie zu fordern, und dies schon fast vor einem halben Jahrhundert!“.

Bild 3. Titelseite der 7. Auflage von Machs „Die Mechanik in ihrer Entwicklung“ (1912)

Worin besteht nun die Kritik Machs an der Newtonschen Mechanik? Newtons Trägheitsgesetz besagt, dass ein materielles System, auf das keine Kräfte wirken, sich entweder im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung in bezug auf den „absoluten Raum“ befindet. So spüren die Fahrgäste einer auf gerader Strecke mit konstanter Geschwindigkeit fahrenden S-Bahn keinerlei Kraftwirkung: 1885 nannte der Physiker Ludwig Lange (1863-1936) Koordinatensysteme, welche Eigenschaften besitzen wie das erwähnte körpereigene Koordinatensystem der S-Bahn „Inertialsysteme“. Der absolute Raum Newtons – oder anschaulicher: das Gefäß – würde auch dann noch existieren, wenn sämtliche in ihm enthaltenen materiellen Systeme verschwinden: Raum, Zeit und Materie existieren unabhängig voneinander. Dagegen postuliert das „Machsche Prinzip“ (Einstein) die Einheit von Raum, Zeit und Materie, indem es das betrachtete materielle System mit der restlichen Materie des Weltalls gravitativ, d.h. durch Massenanziehung, wechselwirken lässt. Mach zufolge ist es also sinnlos, von Bewegungen in Bezug auf den absoluten Raum zu sprechen.

Nach seiner Berufung auf einen 1895 eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für „Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften“ an der Universität Wien rückte Mach die Philosophie noch mehr ins Zentrum seines Schaffens. So veröffentlichte er 1900 eine Neubearbeitung seiner 1886 erschienenen „Beiträge zur Analyse der Empfindungen“ und 1905 sein Buch „Erkenntnis und Irrtum“. 1909 ging Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) in seinem Werk „Materialismus und Empiriokritizismus“ mit Machs philosophischen Anschauungen und dessen Epigonen hart ins Gericht. In der zweiten Auflage aus dem Jahre 1920 bezeichnete Lenin diese Strömung als „Machismus“. Im Kern zielte Lenin darauf ab, dass Mach die Empfindung als „einziges Sein“ und als dem Bewußtsein „einzig Gegebenes“ begreift sowie den Begriff der Materie verschwinden lässt, weil ihm „das Ding, der Körper, die Materie (nichts ist), außer dem Zusammenhang der Elemente“ (d.h. der Empfindungen). Aus der Perspektive des mit der geistigen Welt der österreichischen Sozialdemokratie verbundenen Ernst Mach stellte sich die „Krise der Physik“ (Lenin) mit den der mechanistischen Naturphilosophie widersprechenden Entdeckungen der Physik (Röntgenstrahlen 1895, Radioaktivität 1896, Quantenhypothese, 1900) als Krise des philosophischen Materialismus überhaupt dar. Machs Philosophie bildete einen wichtigen Grundstein der in Gestalt des Wiener Kreises (1922-1936) um Moritz Schlick (1882-1936) sich herausbildenden neopositivistischen Wissenschaftsphilosophie, die nach dem Zweiten Weltkrieg international zur Geltung kam.

Die größte Tragik des seit 1898 durch einen Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselten Ernst Mach liegt vielleicht darin, dass er zwar die Tür zur modernen Physik mit aufgestoßen hatte, nicht aber über die Schwelle getreten ist. So bestritt er bis zuletzt die Existenz von Atomen: „Hams oans gsehn?“ – soll er immer wieder gefragt haben. Einen Tag nach seinem 78. Geburtstag und wenige Monate vor der Vollendung der allgemeinen Relativitätstheorie, deren Schöpfer ihm so viel verdankte, verstarb Ernst Mach im Haus seines ältesten Sohnes, Ludwig Mach (1868-1951), in Vaterstetten bei München.

Die Fernwirkung des universal angelegten wissenschaftlichen Humanismus Machs ist noch heute manifest: In der Physik, der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, der Wissenschaftsgeschichte, den technikwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen und der Psychologie. Vielleicht liegt das Faszinosum der Machschen Gedankenwelt, darin begründet, dass sie sich der Versuchung einer wohltemperierten Weltsicht zu entziehen vermag und sich weiterhin auf exzentrischen Bahnen bewegt.

 

Bildquellen:

Bild 1: Hoffmann, Dieter, Laitko, Hubert (Hrsg.): Ernst Mach. Studien und Dokumente zu Leben und Werk, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1991 (Frontispiz).

Bild 2: Mach, Ernst, Salcher, Peter: Photographische Fixierung der durch Projectile in der Luft eingeleiteten Vorgänge, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien 95 (1887), Abtlg. II, S. 780.

Bild 3: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, 7., verb. u. verm. Aufl., Leipzig: F. A. Brockhaus 1912 (Titelblatt).

Literatur:

Hoffmann, Dieter, Laitko, Hubert (Hrsg.): Ernst Mach. Studien und Dokumente zu Leben und Werk. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1991.

Hoffmann, Dieter, Laitko, Hubert: Ernst Mach, in: Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, 2. Band, hrsgn. v. Dieter Hoffmann, Hubert Laitko u. Staffan Müller-Wille unter Mitarb. v. Ilse Jahn, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2007, S. 448-454.

Kurrer, Karl-Eugen: The History of the Theory of Structures. From Arch Analysis to Computational Mechanics: Berlin: Ernst & Sohn 2008, S. 41ff.

Meyenn, Karl von (Hrsg.): Lust an der Erkenntnis: Triumph und Krise der Mechanik. Ein Lesebuch zur Geschichte der Physik. München: Piper 1990.

Renn, Jürgen: Von der klassischen Trägheit zur dynamischen Raumzeit: Albert Einstein und Ernst Mach, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 20 (1997), S. 189-198.

Autor dieses Beitrages:

Dr.-Ing. Karl-Eugen Kurrer, Wilhelm Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Rotherstr. 21, 10245 Berlin

Chefredakteur „Stahlbau“, Editor-in-chief „Steel Construction – Design and Research

Datum 18. Februar 2013
Autor Karl-Eugen Kurrer
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