Rezension
Zwischen ästhetischer Industrialisierung und industrialisierter Ästhetik
Zu Mühlenpfordt – Neue Zeitkunst
Carl wer? So zu fragen, ist in Anbetracht dieses Buches ganz abwegig nicht. In Braunschweig und in Lübeck ist jeweils eine Straße nach dem Architekten Carl Mühlenpfordt benannt. Doch der Herausgeber des Bandes, Olaf Gisbertz, räumt ein, er sei „über den regionalen Kreis seiner Wirkungsstätten hinaus kaum bekannt.“ Und man ist geneigt zu glauben, dass daran auch dieser Band nichts ändert, dessen eher betuliche Geleit- und Vorworte das Signum des Regionalen ebenso wie den Hinweis auf die Finanzierung des veritablen Bandes tragen, der in seiner ersten Hälfte eine Fülle von spannenden historischen Querverweisen und Kommentaren zu architekturästhetischen Debatten der genannten Periode bietet.
Aktuelle Bezüge
Zur Person Mühlenpfordts sollen hier ausgewählte biographische Angaben reichen: Geboren am 12.2.1878 in Blankenburg am Harz, 1896 – 1900 Architekturstudium an der Herzoglichen TH Braunschweig bei Constantin Udhe, 1907 Bauinspektor in Lübeck, 1914 ordentlicher Professor an der TH Braunschweig, 1933 Entlassung aus dem Staatsdienst „auf Grund des § 4 zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. 1944 gestorben in Lübeck.
Mühlenpfordt zeichnete für nahezu alle öffentlichen Bauten der Stadt Lübeck zwischen 1907 und 1914 verantwortlich. Gisbertz nennt sie in einem mit „Zwischen Tradition und Moderne“ überschriebenen Abschnitt seines Aufsatzes Bauten, „die als klar und zweckmäßig beschrieben wurden, die aber auch noch zu Zeiten des Stildiktats im Nationalsozialismus als ‘wertvolle Ergänzung des alten Stadtbildes’ gelten konnten.“ (S. 31) Ob man Mühlenpfordts Baukunst letzteres vorwerfen kann, ist eine Frage, die bei Lektüre des Bandes Beantwortung findet. Doch zeigt die Ästhetik seiner Bauten eventuell auch, was seine spätestens ab 1914 immer untrennbar mit der Lehre verwobene Position für uns Heutige interessant, wo nicht aktuell machen könnte.
Mühlenpfordt fordert hinsichtlich der Architektenausbildung nicht, „dass das Studium der historischen Baukunst abgeschafft“ werde, es solle aber „in Zukunft so betrieben werden, dass die Bauwerke der Vergangenheit nicht als absolute Kunstwerke angesehen werden, sondern als Zeitwerte.“ – Der Kern dessen, was Mühlenpfordt in einer Art historischen Relativierung als „Neue Zeitkunst“ betrachtete. (S. 40)
Ins Stammbuch geschrieben
Der Versuch, Altes in neue Zusammenhänge gemäß der jeweiligen Zweckbestimmung zu transformieren und dadurch „zeitgemäß“ Neues zu schaffen, liest sich, als wäre er großen Teilen der folgenden Architektur des 20. Jhs. ins Stammbuch geschrieben, wenn es bei Mühlenpfordt heißt „in der überzeitlichen Orientierung an ästhetischen Grundregeln (weitestgehend vitruvianischer Provinienz, der Verf.) werde man, „zu einer Einfachheit kommen, zu der manchem vielleicht noch der Mut fehlt.“ Das ist die Einfachheit als Kennzeichen dessen, was sich „Reformarchitektur“ nennt und, so Sigrid Hofer in dem Aufsatz „Reformarchitektur – Koordinaten und architekturhistorische Prämissen“, „seit einigen Jahren … eine beachtliche Konjunktur“ habe. Sie fügt aber sogleich an, dass, während sich „die kanonisierten, stilgeschichtlich definierten Perioden der Kunstgeschichte“ vermittels mehr oder minder eindeutiger Kriterien beschreiben ließen, sich die Reformarchitektur solchem Unterfangen widersetze. Dafür führt sie zum einen ihr zu vielgestaltiges Erscheinungsbild ins Feld, zum anderen die augenscheinlichen Verknüpfungen mit dem Historismus und der Kritik an ihm. (S. 48) Letztere habe zwar reformarchitektonische Kriterien eingefordert, ohne jedoch konkrete Gestaltungsvorschläge zu entwickeln. Von einer strikten Eliminierung architektonischer Gliederungselemente könne jedenfalls keine Rede sein.
Sinnlose Amalgamierung
Das führte dazu, dass so divergierende Positionen wie die eines vom englischen Landhaus herkommenden Hermann Muthesius und eines vom barocken Schlossbau beeinflussten Paul Schultze-Naumburg durchaus ins reformarchitektonische Bild passten. Ja selbst Bauten, die stilistisch dem Jugendstil zuzuordnen seien, gehörten der Erneuerungsbewegung an. (S. 49) Von hier aus ist es nicht weit zu der spekulativen Frage, warum bestimmte Bauten der 20er und 30er Jahre teils nur schwer von den nach 1933 entstandenen zu unterscheiden sind; und mithin, warum den Nazis, wenn überhaupt etwas an eigener Ästhetik, dann allenfalls die sinnlose Amalgamierung ornamentalen Tands diverser Epochen, freilich auf der Grundlage ausgerechnet nicht näher zu definierender reformarchitektonischer Muster gelang. Sollte an solchem Fragen etwas dran sein, fänden sich Hinweise beispielsweise im von Sigrid Hofer im selben Aufsatz beschriebenen Verwaltungsbau, dessen Prinzip der Variabilität heutige, multifunktionale Investment-Architektur in einzelnen Aspekten um runde 100 Jahre antizipiert und zugleich Züge barocken Schlossbaus verrät. „Der Priorität des decorums folgend“, so Hofer, sei hier „in erster Linie von der Zweckmäßigkeit bzw. den sachlichen Bedingungen der Bauaufgabe auszugehen“ gewesen, „und selbstverständlich hatten sich diese am Bau abzubilden.“ So entsprach, konstatiert Hofer mit gutem Recht, der relativen Gleichartigkeit der Abfolge der Büroräume an der Fassade das Rasterprinzip, das etwa Paul Mebes am sogenannten Nordstern-Haus (Bild 1) in Berlin-Schöneberg (1913/14) konsequent zum Ausdruck gebracht habe. Dabei fügte er, um Eingänge zu markieren, Gebäudeabschnitte zu definieren, „sicher auch“ so Hofer, „um Monotonie zu vermeiden“, flache Ornamente ein. Das Grundprinzip des Baus aber sei der Funktionalität verpflichtet gewesen und so hätten es schon die Zeitgenossen wahrgenommen. (S. 54)
Ornament und Verbrechen im Neo-Barock
Von hier aus bietet der Band die Querverbindung zu Hans-Georg Lipperts Aufsatz „Rationell gelenkte Sinnlichkeit“, in dem es gemäß Untertitel um „das industrielle Denken als gemeinsamer Nenner von Traditionalismus und früher Moderne“ geht. Lipperts hebt seine diesbezüglichen Betrachtungen mit dem Hinweis darauf an, dass Adolf Loos seinen notorischen, um 1908 in Wien gehaltenen Vortrag „Ornament und Verbrechen“ unvorsichtigerweise bald darauf noch einmal in München hielt. „Ausgerechnet zu einer Zeit, als dort der „Neo-Barock“ mit seinen abenteuerlichen Schnörkeln Triumphe feierte und offizielle wie spontane Verehrung genoss.“ (S. 60) Der Entrüstungssturm sei groß gewesen und Loos beinahe Opfer von Lynchjustiz geworden. „Aber“ resümiert Lippert, „was hier Kampf gegen das Ornament schien, […] war nur sekundärer Natur.“ In Wirklichkeit sei es der beginnende Kampf um das Symbol einer neuen Zeit, die technisch, sozial, organisatorisch schon längst da war und nach Form gesucht habe. (ebd. Zit. René von Schöfer, 1930, vgl. S. 73)

Bild 2. Peter Behrens, Verwaltungsgebäude der Mannesmannröhren-Werke (1912/13) in Düsseldorf (Jovis Verlag)
Es gehört zum Verdienst dieses Bandes über einen eher zweitrangigen Architekten mit erstrangigen Hin- und Querverweisen auf die Diskurse der beginnenden architektonischen Moderne und ihrer argen Geburtswehen, dass Sigrid Hofer etwa zu zeigen vermag, wie der Umgang mit dem Ornament und seiner Abschaffung diese Zeit quasi konstituiert. Peter Behrens schuf mit dem Verwaltungsgebäude der Mannesmannröhren-Werke (1912/13) in Düsseldorf (Bild 2), und also beinahe zeitgleich zu Mebes’ „neo-barockem“ Verwaltungsschloss in Berlin-Schöneberg, einen konsequent durchgerasterten Bau bar aller Ornamentik. Sorge um Monotonie trieb Behrens, ganz wie heutige, unsere Innenstädte raumgreifend erobernde Rasterbauten, also anders als Mebes nicht mehr um. Mehr noch ist Behrens Bau zweifelsfrei als Vorläufer heutigen Modulbaus auszumachen, indem er seinem Entwurf ein Modul zugrunde gelegt habe, welches sich aus den Raumabmessungen des sogenannten Normalbüros (mit einem Schreibtisch für sechs Angestellte) ergab, aus dem sodann die Pfeilerstellungen resultierten, die das Gebäude trugen. Dieses Grundmodul war nun je nach Bedarf zu größeren Räumen erweiterbar, da im Inneren nur nichttragende Scherwände aufgestellt waren, mittels derer problemlos auf Nutzungsänderungen reagiert werden konnte. (S. 57)
Siegeszug der Industriearchitektur
Es dürfte nicht zu hoch gegriffen sein, hier einen zentralen Aspekt der Geburt moderner Architektur auszumachen, die als Industriearchitektur – so zumindest ginge eine zu überprüfende These – ihren Siegeszug in fast alle heutige Architektur, gleichsam als ästhetische Industrialisierung und industrialisierte Ästhetik antrat. Ein Aufsatz „Vom neuen Bauen“ aus der Deutschen Bauzeitung Nr. 30 von 1929 zitiert den Behrens-Biographen Fritz Hoeber 1913, der Behrens variable Grundrisspositionen dahingehend würdigt, dass moderne Industriearchitekturen „nämlich niemals […] für die Ewigkeit errichtet“ seien. „Vielmehr bedeuteten sie tatsächlich nur die durchaus wandelbare Hülle für einen sich stetig vergrößernden Organisations- und Produktionsapparat.“ Daher, so der Autor dieses Aufsatzes 1927 in „Der Sieg des neuen Baustils“, sei es darum gegangen, den „modernen, transitorischen Inhalt der beständigen internen Beweglichkeit und der äußeren Erweiterungsmöglichkeit das charakteristische Antlitz zu verleihen.“ – Es gälte, zu überprüfen, ob und, wenn ja, was an diesem Postulat sich bis heute prinzipiell geändert hat und was an dem charakteristischen Antlitz sich allem Charakter entledigt haben könnte.
Gisbertz Aufsatzsammlung „Mühlenpfordt – Neue Zeitkunst“ liest sich als Fundgrube für derlei Überlegungen, vermag jedoch leider nicht mit ihren Pfunden zu wuchern.
Zählt doch zu den Schwächen des Bandes aus neun Aufsätzen von durchweg dem akademischen Milieu entstammenden Autoren, dass die überwiegend sehr geglückte und lesenswerte Darstellung der architekturästhetischen Debatten der Zeit kaum am Werk Mühlenpfordts vermittelt sind, welches etwas spröde in den den Band beschließenden Aufsätzen verhandelt wird. Seine an sich beachtenswerte Position zwischen Tradition und Moderne wird in diesen Aufsätzen leider kaum bis gar nicht herausgearbeitet, sondern erschöpft sich im mäßig Deskriptiven und wird dadurch zum bloßen Postulat. Das führt dazu, dass man den Band mit großen Erwartungen zu lesen beginnt, zu vermuten meint, welche ästhetischen Konsequenzen die Debatten der Zeit bei Mühlenpfordt zeitigen könnte, dies aber, den Band nach Lektüre aus der Hand legend, allenfalls dunkel zu ahnen vermag.
Olaf Gisbertz (Hg.), Mühlenpfordt – Neue Zeitkunst
Jovis-Verlag Berlin 2018
Hardcover, 18 x 29,7 cm
144 Seiten, ca. 120 farb. und s/w Abb.
ISBN 978-3-86859-499-7
35.00€